Ein neuer regionaler Machtpoker
Wer hätte gedacht, dass ein amerikanischer Außenminister eines Tages überschwänglich eine iranische Militäraktion begrüßen würde? Genau das hat John Kerry getan, nachdem Anfang Dezember Kampfflugzeuge der Islamischen Republik im Osten des Iraks einige Stellungen des Islamischen Staates (IS) bombardierten.
Amerikas Offerten in Richtung Teheran sind nicht neu. Zuvor hatte US-Präsident Barack Obama an Revolutionsführer Ajatollah Ali Khamenei appelliert, gemeinsam den neuen Feind IS zu bekämpfen und Entgegenkommen im Nuklear-Streit signalisiert.
Der Sprecher des Weißen Hauses, Josh Earnest, dementierte zwar vor kurzem jedwede militärische Kooperation sowie den Austausch von Geheimdienstinformationen mit Teheran. Doch in Kreisen des US-Militärs wird längst eingeräumt, dass man mit der iranischen Führung in Kontakt stehe, und zwar über die irakische Regierung in Bagdad, die dabei als eine Art Schaltstelle fungiere.
Eine Region im Umbruch
Der Nahe Osten hat sich 2014 gründlich gewandelt. Zuvor pflegten die USA und Europa jahrzehntelang ein gutes Verhältnis zu Israel und Saudi-Arabien. Den Nato-Partner Türkei hatte man ohnehin an Bord. Der Unruhestifter und "Schurkenstaat" Iran wurde seit der Islamischen Revolution isoliert. Und um in der Krisenregion Nahost ganz sicher zu gehen, stationierte man Truppen in der Region und ließ Flugzeugträger kreuzen.
Doch dann tauchte plötzlich eine Dschihadisten-Truppe auf, die inmitten dieser Region ein großes Territorium eroberte und ein Kalifat ausrief. Der "Islamische Staat" war geboren und nichts war mehr wie zuvor. Kein Ereignis der vergangenen Jahrzehnte hat so deutlich gemacht, dass die politischen Geschicke in der Region sich nicht mehr zwangsläufig zugunsten des Westens gestalten.
Stephen Walt, Professor für Internationale Beziehungen an der Harward-Unviversität, beschreibt die gegenwärtige US-Politik folgendermaßen: In der Bush-Ära habe man versucht, die Region durch direktes militärisches Eingreifen unmittelbar zu kontrollieren. Nach dem durch den Irak-Krieg offenbar gewordenen Scheitern dieser Strategie, setze man fortan auf eine Politik des Machtausgleichs mit den regionalen Akteuren – mit möglichst geringer militärischer Intervention. Die USA müssten die Region nicht dominieren, sondern nur dafür sorgen, dass sie niemand anderes dominiert, so das Credo.
Diese Rechnung ging nur so lange auf, bis deutlich wurde, dass die traditionellen Regionalstaaten innenpolitische Umbrüche erfuhren und die USA und Europa feststellen mussten, dass sie von diesen Mächten abhängiger sind als andersherum.
Der Iran als wichtiger Gegenspieler des IS
Am deutlichsten zeigt sich das im Fall Irans. Die Islamische Republik erweist sich nicht nur als einer der wichtigsten politischen und militärischen Gegenspieler des IS. Der Iran war das erste Land, das der von den IS-Dschihadisten bedrängten Regierung in Bagdad zur Hilfe eilte, indem es iranische Quds-Elite-Brigaden in den Irak schickte um den IS-Vormarsch zu stoppen.
In aller Öffentlichkeit ließ sich gar der Kommandeur der Quds-Brigaden, General Qassem Suleimani, gemeinsam mit kurdischen Peschmerga-Kämpfern im Irak für das iranische Fernsehen ablichten. Die Botschaft ist klar: Der Iran möchte sich als wichtiger Faktor im Krieg gegen die IS im Irak vermarkten. Ohne die Quds-Brigaden wäre Bagdad in den Händen des "Islamischen Staats", heißt es in Teheran. "Nur durch die Erfahrung und den Rat der Islamischen Republik konnten die Operationen des Islamischen Staates aufgehalten werden", so Yadollah Javani, Berater von Revolutionsführer Ajatollah Khamenei. Man werde keine Unsicherheiten an der iranischen Grenze tolerieren.
In der ostirakischen Provinz Diyala hatte der Iran Artillerie und militärisches Personal gestellt, um die dortigen IS-Stellungen anzugreifen. Später hatten iranische Berater geholfen, die IS-Belagerung des schiitisch-irakischen Ortes Amerli zu brechen. Die Luftangriffe im Dezember waren dann der vorläufige Höhepunkt der iranischen Angriffe gegen den IS.
Trotz seiner wachsenden Bedeutung als Gegengewicht zum IS, war der Iran zu einem Treffen der Anti-IS-Koalition in Washington mit Militärchefs aus 20 westlichen und arabischen Staaten nicht eingeladen. Der bisher nicht unterzeichnete Nuklear-Deal und der Aufschrei aus Israel, den Iran wieder ins regionale System zu integrieren, hat bisher verhindert, dass der Iran offiziell als ein Teil des Bündnisses gegen die IS gesehen wird.
Eine schiitische Koalition im Kampf gegen die Dschihadisten
Derweil wirbt der Iran für sich als "stabilstes Land der Region, umgeben von Turbulenzen in den arabischen Nachbarstaaten, die von extremen Gruppierungen destabilisiert werden", wie der ehemalige iranische Botschafter in Deutschland, Sayed Hossein Mousavian, der heute an der Princeton-University lehrt, bemerkt. Mousavian preist sein Land als "besten Bündnispartner des Westens" an. "Eine schiitische Koalition bestehend aus dem Iran, der regulären irakischen und syrischen Armeen sowie der Hisbollah, seien neben den kurdischen Peschmerga wohl die effektivste Bodentruppe gegen den IS", so Mousavian.
Aber es gibt auch warnende Stimmen, sich im Kampf gegen den IS zu sehr auf den Iran zu stützen. Mousavians Princeton-Kollege Bernard Haykel fürchtet, dass eine Kooperation zwischen Washington und Teheran zu einem sunnitischen Schulterschluss unter dem Dschihad-Banner führen wird. Der IS sei in vielerlei Hinsicht auch Ausdruck eines sunnitischen Aufstandes im Irak, nachdem die Sunniten ein Jahrzehnt lang im Irak politisch außen vor gelassen worden sind. Teheran und die schiitischen Milizen hätten einen ebenso großen Anteil daran, die konfessionelle Gewalt im Irak anzuheizen, wie die Dschihadisten. "Eine US-Allianz mit dem Iran käme für die Sunniten einer Kriegserklärung gleich", so Haykel.
Die zweite wichtige Regionalmacht, die einen wachsenden Einfluss auf den Nahen Osten hat, ist die Türkei. Sie stellt die größte Wirtschafskraft und auch Armee in der Region. Die Türkei ist wie der Iran mit ihrer langen Grenzen zu Syrien und zum Irak durch den IS verwundbar. Ankaras Ziel ist es, das Regime Assad zu stürzen und dort eine politische Alternative aufzubauen, die von der Türkei kontrolliert werden kann.
Das führte zu einer unübersichtlichen Zusammenarbeit mit verschiedenen syrischen Rebellengruppen, beim gleichzeitigen Versuch, den Syrien-Konflikt aus dem eigenen Land fernzuhalten. Dabei ist das Nato-Land alles andere als ein Lakaien-Staat des Westens. Vielmehr verfolgt die Türkei ganz eigene regionale Interessen.
Der IS als unkontrollierbares Grenzrisiko
Der IS ist inzwischen zu einem neuen unkontrollierbaren Faktor an der südlichen Grenze geworden. Die Türkei sorgt vor allem der Umstand, dass durch ein erfolgreiches Zurückdrängen des IS in dem Gebiet ein Vakuum entstehen könnte, das ausgerechnet von den kurdischen Widersachern gefüllt werden könnte. Und anders als die USA, die zumindest damit liebäugeln das Assad-Regime nicht zu massiv herauszufordern, um dessen Anti-IS-Potential zu nutzen, hält die Türkei an dem Sturz Assads fest.
Offiziell fordert die Türkei von den USA und von Europa eine umfassende Strategie im Falle Syriens, bevor sie sich im Kampf gegen den IS wirklich intensiv engagiert. Dies ist insofern eine legitime Forderung, da sich die Türkei aus diesem Konflikt nicht so einfach zurückziehen kann, wie dies einst die Vereinigten Staaten im Irak getan haben.
Und dann wäre da noch die dritte, finanzstarke Regionalmacht Saudi-Arabien. Das Land gehört seit vergangenem September offiziell der von den USA angeführten Anti-IS-Koalition an. Auch Saudi-Arabien betreibt den Sturz Assads. Die Rivalität mit dem Iran, um die Vormachtstellung am Golf bildet das entscheidende Motiv für die saudische Syrien-Politik. Das Bündnis zwischen dem Regime in Damaskus und Teheran ist Riad ein großer Dorn im Auge.
Saudi-Arabien will Syrien aus dem iranischen Orbit hinausbrechen. Dafür bot der Aufstand gegen Assad eine günstige Gelegenheit. Daher unterstützte Saudi-Arabien vor allem radikale islamistische Rebellengruppen, in der Hoffnung, dass dort etwas entsteht, was Assad ernsthaft herausfordert und gleichzeitig von Saudi-Arabien kontrolliert werden kann.
Dabei unterstützte die Führung in Riad nur solche Rebellengruppen, die nicht der Muslimbruderschaft nahe stehen. Denn die Saudis betrachten die Muslimbrüder ebenfalls als Rivalen, da sie mit ihrem Konzept, sich in Ägypten bei Wahlen legitimieren zu lassen, dass saudische Konzept einer gottgebenen islamischen Autokratie in Frage stellten. Die Saudis unterstützten folglich nur die radikalsten islamistischen Rebellengruppen gegen das Assad-Regime.
Gleichzeitig war der IS sicherlich auch im saudischen Interesse, um den iranischen Griff auf den Irak zu lockern und die Versorgungslinien zwischen dem Iran, Syrien und der Hisbollah im Libanon zu stören.
Der größte saudische Albtraum
In diesem Sinne ist Saudi-Arabien sicherlich auch einer der Wegbereiter des IS, wenngleich jetzt ein Geist aus der Flasche getreten ist, den Saudi-Arabien nicht mehr kontrolliert. Das größte saudische Dilemma besteht jedoch darin, dass es für das Land kontraproduktiv wäre, den IS zu finanzieren und zu unterstützen, wenn es dadurch zu einem iranisch-amerikanischen Schulterschluss käme. Das wäre der größte saudische Albtraum. Im Moment nutzt der IS aus saudischer Sicht ausgerechnet dem Assad-Regime und dem Iran. Und das ist wohl auch der Hauptgrund dafür, warum sich Saudi-Arabien, allen internen Widerständen zum Trotz, der Anti-IS-Koalition angeschlossen hat.
Die Zusammenarbeit und die Koalition gegen den IS funktioniert nur dort, wo sich zwischen dem Westen und den Regionalstaaten interessensbedingt ein gemeinsamer Nenner finden lässt. Sowohl im Falle Saudi-Arabiens, als auch der Türkei gibt es Schnittmengen, aber auch viele Widersprüche. Im Falle des Iran, würde ein Deal in der Nuklearfrage die geopolitische Landkarte in der Region nachhaltig verändern. Die Führung in Teheran weiß genau, dass die Zusammenarbeit im Kampf gegen den IS die effektivste Karte ist, den Westen bei den Nuklear-Verhandlungen Zugeständnisse abzuringen. Doch solange eine Übereinkunft im Atomstreit nicht in Sicht ist, wird es keine Kooperation zwischen dem Iran und den USA gegen den IS geben, bestenfalls, wie bereits heute, eine taktische Koordination.
Blickt man in Europa immer noch in Richtung Obama, in der Hoffnung, die mit dem IS entstandene Krise militärisch oder politisch zu lösen, sind es in Wirklichkeit vor allem die Regionalstaaten, die dafür den Schlüssel in der Hand halten. In dem Moment, in dem sich der Iran, Saudi-Arabien und die Türkei einig sind, wie sie die Krise in Syrien und dem Irak nicht militärisch, sondern politisch lösen können, wäre der Anfang vom Ende dieser Krise eingeläutet.
Die neue Unübersichtlichkeit
Davon ist die Region aber noch meilenweit entfernt. Die Türkei will nicht ohne größere Zugeständnisse in den Konflikt hineingezogen werden. Der Iran will das Nuklear-Problem und die Sanktionen aus der Welt schaffen – im Gegenzug für ihre Hilfe im Kampf gegen den IS. Und die Saudis schauen mit Sorge auf die neue iranisch-amerikanische Annäherung.
Der "New York Times"-Kolumnist Thomas Friedman sieht in dieser regionalen Gemengelage die Chance, dass die USA weiter ins strategische Zentrum des regionalen Systems rücken und traditionell die Regionalstaaten gegeneinander ausspielen, die nun ihre Beziehungen mit Washington neu definieren müssten.
Doch eigentlich ist gegenwärtig eher das Gegenteil der Fall: Der Nahe Osten wird nicht mehr von einem "Weltpolizisten" USA gelenkt, flankiert von den Europäern. Es sind die Regionalstaaten, die im Nahen und Mittleren Osten zunehmend den Ton angeben und der Westen muss seine Beziehungen zu diesen regionalen Mächten neu definieren. Das macht das Ordnungssystem im Nahen Osten unübersichtlicher und komplizierter. Das gilt umso mehr, als die Regionalstaaten Iran, Türkei und Saudi-Arabien im Kampf gegen den IS beides gleichzeitig sind: ein Teil des Problems und Teil seiner Lösung.
Karim El-Gawhary
© Qantara.de 2014