Bärendienst für die Reformer
Als Mitte August die Initiative Hamburgs für einen Staatsvertrag mit Muslimen und Aleviten Schlagzeilen machte, ging ein Detail in der Öffentlichkeit unter, das mehr Aufmerksamkeit verdient hätte: Einer der Vertragspartner des Senats ist nämlich die Schura Hamburg, ein Zusammenschluss von Moscheegemeinden, in dem der Verband Milli Görüs einiges Gewicht hat.
Die Organisation Milli Görüs aber, die in Deutschland unter dem Namen IGMG firmiert, wird vom Verfassungsschutz im Bund und vielen Ländern als verfassungsfeindlich eingestuft. Die IGMG lehne sich immer noch eng an die türkische Mutterorganisation Milli Görüs an, heißt es in den Berichten. Sie lehne westliche Demokratien ab und betreibe "desintegrative Bildungsarbeit". Frauen würden benachteiligt, auch antisemitische Tendenzen werden dem Verband vorgeworfen.
Die Hansestadt exerziert damit einen Spagat: Einerseits beäugen die Sicherheitsbehörden die IGMG kritisch, die in Hamburg durch das "Bündnis der Islamischen Gemeinden in Norddeutschland" (BIG) vertreten wird. Andererseits wird die Gruppe in einen politischen Prozess mit Pioniercharakter eingebunden, der auf andere Bundesländer ausstrahlen und die institutionelle Anerkennung der Muslime als Religionsgemeinschaft voranbringen kann.
Internes Ringen um Modernisierung
Auch in Rheinland-Pfalz geht man auf die IGMG zu, obwohl der Landesverfassungsschutz sie beobachtet. Das Grün-geführte Integrationsministerium hat deren Vertreter in den neuen Runden Tisch Islam berufen, eine Art Landes-Islamkonferenz, die Ende März erstmals tagte. "Ich ziehe einen kritischen Dialog der Sprachlosigkeit vor", begründet der Integrationsbeauftragte der Landesregierung, Miguel Vicente, und verweist auf das "sehr offene und kommunikative" Auftreten von Milli Görüs im Land.
Vor allem in den Kommunen "sucht sie aktiv den Dialog mit Nicht-Muslimen", sagt Vicente. Sie sei "bereit, gesellschaftspolitisch mitzugestalten – das muss man in der Gesamtschau berücksichtigen." Kommt Milli Görüs also aus der Schmuddelecke raus?
Fakt ist: Die IGMG ist mit 30000 Mitgliedern und 320 Moscheegemeinden nach der Ditib der zweitgrößte Moscheenverband in Deutschland. Viele Kommunen kommen nicht an ihr vorbei, wenn sie die Muslime vor Ort ansprechen wollen.
Und auch innerhalb der IGMG gibt es bedeutende Kräfte, die den Verband von der türkischen Mutter-Organisation abnabeln und in die deutsche Gesellschaft hinein öffnen wollen. Das sagt der Islamwissenschaftler und Milli-Görüs-Experte Werner Schiffauer, der die Entwicklung von Milli Görüs über Jahre beobachtet hat. Schiffauer sieht ein heftiges IGMG-internes Ringen zwischen den jungen Modernisierern in der Führung um Generalsekretär Oguz Ücüncü und islamistischen Kräften der ersten Generation, die weiter die Abschottung der Organisation betrieben.
Der 2011 eingesetzte neue Deutschlandvorsitzende Kemal Ergün sei zwar ein Kompromisskandidat der beiden Flügel, habe aber inzwischen einige konservative Regionalvorsitzende ausgetauscht: "Er vermeidet den offenen Bruch mit dem alten Kurs, aber er trägt die Reformlinie weiter."
Schiffauer ist überzeugt, dass die Reformer sich von der Idee eines islamisch geordneten Staatswesens verabschiedet haben und "in der pluralen Gesellschaft angekommen sind, auch wenn sie ein Recht auf Differenz einfordern". Den Vorwurf der desintegrativen Bildungsarbeit nennt er "völligen Unsinn". In Berlin setze der Verband sogar das "bundesweit fortschrittlichste Curriculum zum islamischen Religionsunterricht" um, "aber das nimmt keiner wahr, weil das Etikett Milli Görüs drauf klebt."
Verfassungsschutz als politischer Agitator
Ansätze zur Modernisierung, die von der IGMG-Führung im rheinischen Kerpen ausgehen, räumt auch das Bundesamt für Verfassungsschutz ein. Und auch einige Landesämter, wie Berlin und NRW, attestieren der IGMG "erste Schritte" in Richtung Reform und Integration.
"Den Führungsleuten", sagt ein Verfassungsschützer im Gespräch, "muss man gerechterweise zugestehen, dass sie Antisemitismus nicht mehr unterstützen." Auch das Ideologische, der Islamismus, sterbe überwiegend ab, "die Predigten werden religiöser".
Der Sicherheitsexperte, der die muslimische Szene in Deutschland seit Jahren beobachtet, nennt als Beispiel für Öffnungstendenzen auch das Online-Magazin "Migazin", das Themen rund um Migration und Integration vor allem aus migrantischer Perspektive beleuchtet. Den Verantwortlichen werden zwar Verbindungen zur IGMG nachgesagt, Herausgeber Ekrem Senol etwa war früher regelmäßig als Autor auf der offiziellen IGMG-Homepage zu finden.
Doch das "Migazin" hat jetzt sogar den angesehenen Grimme Online Award 2012 für Internet-Publizistik bekommen – für seinen integrativen Ansatz, von dem die Jury hofft, dass er "Vorbild für andere Projekte dieser Art" wird.
Die Verfassungsschützer registrieren solche Entwicklungen in Teilen der Bewegung, aber sie reichen ihnen nicht. Warum? "Es fehlt weiterhin die offene, ausdrückliche Distanzierung von islamistischen Positionen. Die Führung muss endlich Position beziehen und sich von der Ideologie lossagen."
Schiffauer seinerseits hält die anhaltend harte Linie der Ämter für verheerend. Sie treffe intern "genau die Falschen, nämlich die Reformer", denn sie erschwere die Kooperation gemäßigter Milli-Görüs-Vertreter mit anderen gesellschaftlichen Kräften. Ein Beispiel liefert Baden-Württemberg: Da lud Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) Anfang Mai zum zweiten Mal zum Runden Tisch Islam – Milli Görüs aber musste draußen bleiben. Einzige Begründung: Der Verband sei "Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes ".
IGMG-Generalsekretär Oguz Ücüncü beklagt denn auch, die Verfassungsschutzbeobachtung grenze seine Organisation auf allen Ebenen aus: "Wenn die IGMG eine neue Moschee eröffnen will, klingeln gleich die Alarmglocken. Wir dürfen nicht in die Beiräte an den Fakultäten für Islamische Theologie, auch in vielen Dialogforen gibt es Schwierigkeiten." Letztlich, so seine Kritik, "bestimmen damit die Verfassungsschutzbehörden die Integrationspolitik. Das geht aber klar über ihren gesetzlichen Auftrag hinaus."
Rigide Rechtspraxis
Jürgen Micksch, Vorsitzender des Interkulturellen Rates Deutschland (IR), der bundesweit auf kommunaler und Landesebene dutzende Dialogforen zwischen muslimischen Gruppen und Politik organisiert, bestätigt: Die Erwähnung der IGMG in den Verfassungsschutzberichten wirke wie ein Stigma. Verbände, die mit ihr kooperierten, müssten um Zuschüsse fürchten, denn "da greift schnell die Extremismusklausel des Bundesjugendministeriums".
Auch individuell kann es erhebliche Nachteile bringen, zu einer Milli-Görüs-Gemeinde zu gehören. Ein Insider berichtet, dass die Verfassungsschutzämter Gemeindemitglieder schon namentlich als "Funktionäre" erfassen, wenn sie auf Ortsebene eine Jugendgruppe leiten oder Kassenwart sind. Geht es dann um eine Einbürgerung oder den Aufenthaltsstatus der Betroffenen, erlebt der Frankfurter Rechtsanwalt Reinhard Marx "eine Härte wie damals beim Radikalenerlass".
Der Experte für Aufenthalts- und Asylrecht hat viele Mandanten aus dem Milli-Görüs-Milieu. Nach seiner Erfahrung verweigern Verwaltungsgerichte Einbürgerungen bei sogenannten Funktionären regelmäßig. "Dabei haben die Leute oft gar keine Wahl, in welcher Moschee sie sich engagieren, weil es nur die von Milli Görüs gibt."
Ausländerbehörden stützten häufig sogar Ausweisungsbeschlüsse auf niedrigschwellige IGMG-Aktivitäten – eine Praxis, die vor den Verwaltungsgerichten aber selten Bestand hat. Marx zufolge fußen die verweigerten Einbürgerungen lediglich auf der "angezweifelten Integrationsbereitschaft. Dabei müsste eine verfassungsfeindliche Einstellung nachgewiesen werden, aber das gelingt nie." Gerade höherrangige Funktionäre, die besser geschult und rhetorisch stärker sind, kämen bei solchen Verfahren oft besser weg.
IGMG-Generalsekretär Ücüncü beobachtet als Folge dieser Lage Frustrationstendenzen bei jungen, engagierten Mitgliedern im Verband. Schnelle Verbesserungen erwartet er nicht. Mittelfristig aber könnte die Öffnungsdynamik in Teilen der IGMG doch Früchte tragen. Wenn der Prozess so weitergehe, schätzt der Verfassungsschützer, "wird der Verband in zehn Jahren nicht mehr in unseren Berichten auftauchen."
Ursula Rüssmann
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Redaktion: Loay Mudhoon/Qantara.de