Islamophobie, Multikulturalismus und der Staat
Die Bombenanschläge von London im Juli letzten Jahres waren für die britischen Muslime ein schwerer Schlag, und das in zweifacher Hinsicht:
Als Briten empfanden sie von nun an Furcht vor weiteren Akten solch rücksichtsloser und brutaler Gewalt. Als Muslime fehlte ihnen das Vertrauen in die Kraft der geistlichen Führer, es mit dem Establishment aufnehmen zu können.
Ein Jahr ist seitdem vergangen, die geistlichen Führer sind inzwischen um einiges stärker geworden, weiser und artikulierter; auch spürten sie seitdem, dass viele Menschen in diesem Land hinter ihnen stehen.
Natürlich war eine Gegenreaktion zu beobachten, zumal die Kritik von islamischer Seite in diesen Fragen allzu leichtfertig abgetan und nicht ernst genommen wird.
So erging es etwa muslimischen Parlamentariern und 28 größeren Organisationen, die zwei Tage nach dem 'gescheiterten Anschlag' vom 10. August 2006 dem Premierminister einen offenen Brief schrieben. Von der Rolle der britischen Außenpolitik war darin die Rede und davon, wie sie dazu beitrage, den Kult der Selbstmordattentate weiter zu verstärken.
Prompt wurden diese Gedanken zur Seite geschoben und ihre Kritik als nicht diskutabel abgetan.
"Warum die Pakistaner?"
Eine Frage aber, die sich nicht erst seit dem 10. August aufdrängt, ist: "Warum die Pakistaner?" Warum sind keine anderen Gruppen von südasiatischen Immigranten in diese Gewaltakte verwickelt?
Dr. Tahir Abbas ist Außerordentlicher Professor für Soziologie, Department of Sociology Direktor des University Centre for the Study of Ethnicity and Culture Universität von Birmingham, EnglandZur Beantwortung dieser Fragen reicht der Rekurs auf die Ethnizität nicht aus, vielmehr haben wir es hier mit Fragen von sozialer Schicht und Gruppen- oder Gemeindezugehörigkeit zu tun. Sicher, wenn wir uns die jungen Muslime betrachten, die in Terrorakte verstrickt sind (oder der Verstrickung verdächtig), dann stammen tatsächlich viele von ihnen aus armen Vierteln.
Doch viele eben auch nicht. Was aber allen gemein zu sein scheint, ist eine nur begrenzte Teilnahme an bestimmten öffentlichen Sphären, das Fehlen eines Zugehörigkeitsgefühls, aber auch der Mangel an einer Art von kultureller Bewusstheit.
Zudem scheinen sie die Position Großbritanniens im Vergleich zum kontinentalen Westeuropa sehr gering zu achten und haben nie das Zutrauen entwickeln können, sich selbst aktiv in der offiziellen Politik zu betätigen.
"Kulturelles und soziales Kapital" ist ein Konzept, das häufig mit dem Eingebundensein in und dem Zusammenhalt einer Gemeinde verbunden wird; Entfremdung, Enttäuschung, Entrechtung und Isolation aber sind bei armen wie reichen Muslimen zu beobachten und vermögen beide Gruppen in die Radikalität zu treiben, auch wenn letztere sehr viel weniger anfällig hierfür sind.
Das Versagen des Staates
Der Staat (genauer: der Nationalstaat) hat in vielerlei Hinsicht versagt beim Versuch, seine Muslime stärker zu integrieren: Als das Innenministerium im letzten Jahr Arbeitsgruppen einsetzte, um Vorschläge und Empfehlungen zur Bekämpfung des Extremismus zu erarbeiten, wurde nur eine kleine Zahl davon umgesetzt, von denen die meisten wiederum nur sehr kurzfristig angelegt waren.
Alles in allem hat der Staat auf ganzer Linie versagt, als es darum ging, die erarbeiteten Leitlinien in praktische Politik umzusetzen. Dass die internationale Politik einen starken Einfluss hat auf die Wahrnehmung und die Überzeugungen bereits sehr desillusionierter Menschen, wird abgetan, wenn nicht gar rundherum als absurd hingestellt.
Auf nationaler Ebene beobachten wir einen deutlichen Rechtsruck und eine immer unverhohlenere Sympathie für neokonservative Forderungen. Auf lokaler Ebene fällt auf, dass in die Entwicklung jener Viertel, in denen Muslime aus Südasien leben, praktisch kaum noch oder auch gar nicht mehr investiert wird.
Schlechte Ausbildung und hohe Arbeitslosigkeit beeinträchtigen die beruflichen Chancen ebenso wie die sonstigen Lebensperspektiven.
Zu wenig religiöse Unterweisung
Erschwert wird die Situation durch den Umstand, dass die erste Generation der Einwanderer in der großen Mehrzahl einen recht einfachen bäuerlichen Hintergrund hatte und sie ihre hiesigen sozialen Netzwerke entsprechend sippen- und verwandtschaftsorientiert aufbauten; dies macht es den jüngeren Generationen oft schwer, ihren eigenen Weg zu finden.
Die Autorität der muslimischen Führer ist immer schwächer geworden, was auch auf ihre Fähigkeit zutrifft, Visionen für eine interkulturelle und religiöse Zukunft zu entwickeln. Die Spannungen zwischen den Generationen werden in keiner Weise abgebaut, vor allem in Bezug auf den patriarchalen Charakter der meisten islamischen Familien.
Schließlich aber sind auch viele Moscheen und die Imame zu erwähnen, die den Erwartungen ihrer Gemeinden zu oft nicht gerecht wurden; dabei geht es keineswegs darum, dass sie die Jugend radikalisiert hätten, eher das Gegenteil: Immer weniger schaffen sie es, die jungen Muslime überhaupt noch zu erreichen.
So überließen sie die religiöse Erziehung ihnen selbst: Studienkreise wurden gebildet, das Internet zur Information und ihnen vertraute Kommunikationsformen (wie auch die englische Sprache) genutzt. Also war es eher das Zuwenig als das Zuviel an religiöser Unterweisung, das erst die Tür öffnete für die schädlichen Einflüsse, die heute zu beklagen sind.
Muslime im Mittelpunkt
Im jetzigen politischen Klima ist es offensichtlich, dass wir zukünftig den Begriff "britisch-muslimische Gemeinde" vom Begriff "muslimische Gemeinde" sorgsam trennen müssen. Viele südasiatische Muslime, die in einer sozialen Abwärtsspirale gefangen sind, entfernen sich zunehmend von einer wachsenden Zahl von gut verdienenden, gut integrierten und elitären Muslimen aus der Mittelschicht.
Hinzu tritt der Befund, dass sich die Debatte um Integration und Multikulturalismus immer stärker auf die religiösen Minderheiten und ihre angeblich so fremden Lebensstile verengt.
Längst schon konzentrieren wir uns dabei nicht mehr auf Begriffe wie Gleichheit und Unterschiedlichkeit, sondern immer stärker auf Konzepte wie Kultur und Werte. Entfernen wir also nach und nach die einzelnen Lagen des Diskurses, so gelangen wir unweigerlich zur Feststellung, dass es nur noch und ausschließlich um Muslime geht.
Wie lange wir mit diesem Phänomen zu leben haben, wird sich erst noch herausstellen müssen.
Tahir Abbas
Aus dem Englischen von Daniel Kiecol
© Qantara.de 2006
Qantara.de
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