In der Isolation
Mit der Wahl Mohammad Mursis zum ägyptischen Präsidenten im Juni 2012 standen der Hamas plötzlich alle Türen offen, Diplomatie im großen Stil zu betreiben. Diesen Prozess begleiteten unter anderem Solidaritätsbesuche, die der ägyptische Ministerpräsident Hisham Kandil und der ehemalige tunesische Außenminister Rafiq Abdelsalam der Hamas im Gaza-Streifen während der israelischen Luftoffensive im November 2012 abstatteten. Im Zuge der arabischen Revolutionen war die Unterstützung des palästinensischen Widerstands wieder salonfähig geworden und die Hamas glaubte sich als einer der Hauptprofiteure dieser Umbrüche.
Ein Jahr später herrscht jedoch große Ernüchterung in Gaza. Der ägyptische Präsident Mursi wurde kurzerhand vom Militär abgesetzt und die Beziehungen zwischen der Hamas und ihren früheren regionalen Verbündeten, Syrien und Iran sind zerrüttet: Die Palästinenserorganisation weigerte sich, gemeinsam mit dem Assad-Regime und dessen Alliierten, der libanesischen Hisbollah, gegen das überwiegend sunnitische Oppositionsbündnis in Syrien zu kämpfen. Denn unter den Rebellen ist auch die syrische Muslimbruderschaft, die der Hamas nahe steht. Doch mit diesem Kurswechsel stieß die Hamas auch die Führung in Teheran vor den Kopf.
Vor der Räumung ihres Hauptquartiers in Damaskus im Februar 2012 soll die Hamas noch 150 bis 180 Millionen iranische Zuschüsse erhalten haben, schätzt Michael Bröning, Autor des Buches "Political Parties in Palestine" und leitender Redakteur des "IPG-Journals" der Friedrich Ebert Stiftung.
Hamas ohne regionale Rückendeckung
Daraufhin eröffnete die Hamas in der qatarischen Hauptstadt Doha ihre neue internationale Zentrale. Die Führung in Qatar ist zwar ein wichtiger Geldgeber für die Hamas, doch ihre Verbündeten hat sie verloren und steht nun ziemlich isoliert in der Region da. Auch Nahostwissenschaftler Bröning rechnet nicht damit, dass der Golfstaat die Hamas künftig übermäßig unterstützen wird: "Für Qatar ist klar, dass der Gaza-Streifen nicht das entscheidendste Element in der neuen Regionalordnung darstellt."
Derweil herrschen in den palästinensischen Autonomiegebieten weiterhin innenpolitische Spannungen. Die "Regierung der nationalen Einheit", in der die beiden größten Palästinenserorganisationen 2006 miteinander koalierten, war nur von kurzer Dauer. Schon zum Ende des Wahljahres eskalierte die Gewalt zwischen der Hamas und der Fatah, dem einflussreichsten Flügel innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), und mündete in einen Bruderkrieg.
Seit die Hamas 2007 die Kontrolle über den Gaza-Streifen an sich gerissen hat, verstellte ihr die Fatah den Weg, sich außerhalb ihres Machtbereichs im großen Stil zu reorganisieren. "Man kann daher auch nicht mehr wirklich von einer breiten Hamas-Infrastruktur im Westjordanland sprechen", stellt Bröning fest.
Prekäre Wirtschaftslage
Der Machtwechsel in Ägypten vom vergangenen Sommer wirkte sich desaströs auf die Wirtschaft im Gaza-Streifen aus. Denn das ägyptische Militär zerstörte hunderte Schmugglertunnel, die in den Sinai führten. Omar Shaban vom Think-Tank Palthink, einer unabhängigen Institution für strategische Studien in Gaza-Stadt, ermisst den entstandenen Schaden wie folgt: "Der Tunnelhandel wird auf jährlich umgerechnet 500.000.000 US-Dollar geschätzt, was 50 Prozent des Haushalts der Hamas-Regierung ausmacht. Das bedeutet, dass sie den größten Teil der Steuereinnahmen aus dem Tunnelhandel für dieses Jahr verloren hat."
Darunter leidet die Infrastruktur im Gaza-Streifen. Im November musste die Hamas das einzige Kraftwerk abstellen, da die ägyptischen Preise für Diesel stark anstiegen. Mehr als die Hälfte des benötigten Öls, das einstmals durch die Tunnels geschmuggelt wurde, kann aufgrund der fehlenden finanziellen Mittel nicht ausgeglichen werden. Im letzten Monat warteten die Haushalte in Gaza bis zu 16 Stunden lang am Tag auf Strom.
Dies ist nur ein Grund dafür, weshalb die Hamas innerhalb der Bevölkerung unter enormem Erwartungsdruck stehe. Doch eine rasche Lösung der Krise scheint nicht in Sicht, meint Bröning. Um über die aktuelle Lage nicht vollends in gesellschaftliche Ungnade zu fallen, versucht sie daher, auf anderen Wegen ihre Herrschaft in Gaza öffentlichkeitswirksam zu legitimieren: "Die Hamas sucht neue Aktionsfelder und in einer Situation, in der sie kaum Aktionsfreiheit hat und beschränkt sich auf symbolische Politik", so Bröning.
Diese symbolische Politik äußert sich in verschärften Islamisierungskampagnen. Jüngst wurde ein Gesetz zur Geschlechtertrennung in Schulen erlassen sowie Mädchen und Jungen nicht länger von Lehrern des anderen Geschlechts unterrichtet werden dürfen. Doch ist der Druck auf die Gesellschaft ausgehend von derartigen Regulierungen der Hamas nicht ungewöhnlich, da der Grad der Islamisierung im alltäglichen Leben ohnehin weit fortgeschritten ist.
Zögernde Internetaktivisten
Der Unmut in der Bevölkerung äußert sich bisher nur virtuell. Auf Facebook wurde am 11. November, anlässlich des 7. Todestages von Jassir Arafat, zu Protesten gegen die Hamas aufgerufen, jedoch tauchten keine Demonstranten zum verabredeten Zeitpunkt und Ort auf. Der Initiatoren waren junge Aktivisten, die sich an der ägyptischen "Tamarrod" (dt.: Rebellion)-Bewegung orientieren. Sie sieht Bröning bisweilen als Randphänomen: "Es gibt augenscheinlich keine klare Agenda, Führung und Zielsetzung. Einige wollen den Zusammenbruch der Hamas-Regierung, andere die Regierung der nationalen Einheit."
Durch den Wandel der Großwetterlage in der Region gibt es auch innerhalb der Hamas verschiedene Strategieüberlegungen. Bröning beobachtet zwei Trends in der Organisation: "Die Hardliner in der Hamas, vor allem in Gaza, setzen stärker auf die Unterstützung aus dem Iran." Paradoxerweise verurteilten sie die jüngste Einigung im Atomstreit, da sie womöglich angesichts der Annäherung des Irans an den Westen eines Tages um den iranischen Beistand bangen müssten. Im Gegensatz dazu bewertet der ehemalige Sprecher der Organisation, Ahmad Jusuf, die Öffnung des Irans in Richtung Westen im Prinzip positiv, da auch das für die Hamas von Vorteil sein könne.
Trotzdem müssen der politische Führer der Hamas, Khaled Maschaal sowie andere, moderate Kräfte seiner Organisation, die in erster Linie im Exil leben, ihre Hoffnungen auf diplomatische Beziehungen in der Region erst einmal hintenanstellen. Für Bröning kommt es nun vor allem auf das politische Handeln der externen Akteure an, ob die Hamas einen radikalen oder moderaten Kurs einschlägt: "Es gibt diese beiden Trends in der Partei. Die Reaktion des Westens hat Auswirkungen darauf, in welche Richtung sich die Hamas weiterentwickelt und welchen Trend man stärkt oder schwächt."
Juliane Metzker
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de