Wie sich Israelis und Palästinenser in Deutschland begegnen
Ein Quadratmeter Privatsphäre. Einen mal einen Meter messen die Toilettenkabinen, abgedichtet mit Plastikplanen, angebracht an einfachen Holzleisten. An einem Ort, an dem sich tausende Menschen drängen, die aus dem gesamten Gazastreifen geflohen sind. Die israelische Armee hat das einstige Dorf Al-Mawasi als sogenannte "Schutzzone" ausgewiesen, aber ohne entsprechende Infrastruktur.
"Meine Eltern, Freunde, Bekannte sind in Al-Mawasi. Ich fragte alle meine Kontakte, was die Menschen am nötigsten brauchen, und die Antwort lautete: Toiletten, Duschen, Zelte. Und als Tom mich fragte, ob sie helfen könne, sagte ich ja." Das erzählt Seba Abu Daqa. Sie ist Palästinenserin und stammt aus dem Gazastreifen. Tom Kellner ist jüdische Israelin aus Haifa. Heute leben beide in Deutschland, Abu Daqa in München, Kellner in Berlin. In Israel und Gaza wären die beiden einander nie begegnet. In Deutschland ist dies möglich.
Kellner und Abu Daqa schickten Spendenaufrufe an Freunde, Bekannte und Verwandte in Israel, in den Palästinensischen Gebieten, in Deutschland und weltweit. Abu Daqa nutzte ihre Netzwerke in Gaza, um Materialien und den Bau der Sanitäranlagen und Zelte zu organisieren. Denn von Beginn an war klar: Sie könnten nur mit dem arbeiten, was bereits im Gazastreifen vorhanden ist. Selbst große Hilfsorganisationen scheitern aktuell daran, Material in den Gazastreifen zu bekommen - aufgrund der Restriktionen durch das israelische Militär.
Eine Toilette kostet zwischen 200 und 500 Euro. Mit dem Fundraising haben sie im Januar angefangen, inzwischen stehen 28 Toiletten, einige davon mit Duschen, sowie 30 Zelte, in denen rund 10 Personen unterkommen können.
Krieg in Nahost – Einsamkeit in Europa
Kennengelernt haben sich die beiden Frauen über ein Dialogprojekt für Israelis und Palästinenser, die in Europa leben. Seit Wochen treffen sie sich regelmäßig per Videoschalte, vor kurzem haben sie sich erstmals zu einem gemeinsamen Workshop in Berlin getroffen. Tom Kellner strahlt, während sie berichtet, wie überwältigend es war, als sie ihre "Online“-Freundin zum ersten Mal umarmen konnte, nach Wochen des gemeinsamen Arbeitens am Projekt "Clean Shelter“.
Slieman Halabi, ein promovierter Sozialpsychologe und Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft, hat die Dialoggruppe initiiert. Wie Abu Daqa lebt er inzwischen in München. "Gerade jetzt, wo Krieg herrscht“, so Halabi, "fühlen wir uns hier in Europa sehr einsam.“ In Israel hatte er als Student erstmals selbst an einem Workshop teilgenommen, in dem sich jüdische Israelis und palästinensische Bürger Israels trafen. "Das hat mein Leben verändert“, erinnert er sich.
Er ließ sich im Friedensdorf Neve Shalom (Hebräisch) / Wahat al-Salam (Arabisch), gelegen zwischen Tel Aviv und Jerusalem, als Moderator ausbilden. Das Ziel der "Schule für den Frieden“: Begegnungen zwischen Israelis und Palästinensern zu ermöglichen. Außergewöhnlich, denn in der Regel begegnen sie sich nicht. Selbst jüdische und palästinensische Bürger Israels haben selten Kontakt zueinander. Sie gehen auf unterschiedliche Schulen, leben meist in unterschiedlichen Orten oder Stadtvierteln. Was den jeweils anderen bewegt, wissen sie meist nicht.
"Wir versuchen nicht, eine unmittelbare Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt zu finden. Aber wir glauben daran, dass man zur Suche nach einer Lösung die Perspektive des anderen verstehen muss.“
Treffen im Schockzustand
An der ersten Dialoggruppe der "Schule für Frieden" außerhalb Israels nahmen auch Palästinenser aus Gaza, Syrien und dem Westjordanland teil und trafen auf jüdische Israelis. Möglich war dies nur, weil alle inzwischen in Europa leben. Doch auch in der Ferne wissen sie meist wenig voneinander, bestehen Vorurteile und Unwissen fort.
Die Idee einer Gruppe von "Exil-Israelis und Exil-Palästinensern“ hatte Halabi bereits seit langem. Das erste Treffen setzte er als Online-Termin für den 8. Oktober 2023 an. Zu diesem Zeitpunkt ahnten die 17 Teilnehmer noch nicht, dass sie dieses Treffen im Schockzustand erleben würden.
Am 7. Oktober durchbrachen hunderte Terroristen der Hamas und anderer militant-islamistischer Gruppen aus Gaza die Grenzanlagen zu Israel. Nach israelischen Angaben töteten sie 1160 Menschen, verschleppten rund 250 Geiseln nach Gaza, die meisten von ihnen Zivilisten, darunter etliche Frauen und Kinder.
Slieman Halabi erinnert sich: “Als ich am 7. Oktober aufwachte und wie üblich die Nachrichten öffnete, war ich schockiert. Im israelischen Fernsehen zeigten sie Interviews mit Menschen, die sich in den Bunkern ihrer Häuser versteckten, die schilderten, was sie von draußen hörten, es war einfach unfassbar. Sie sprachen mit Menschen, die in ihre Handys flüsterten 'da draußen sind Terroristen, bitte kommt und helft uns‘. Und ich konnte nichts tun, außer dort zu sitzen, zuzuschauen und verrückt zu werden.“
Mehr als 30.000 Tote Palästinenser in Gaza
Etliche derjenigen, die eine Einladung zum Treffen erhalten hatten, fragten, ob sie das Ganze nicht absagen sollten. Doch das wollte Halabi auf keinen Fall. "Ich sagte ihnen: Bitte kommt. Wir müssen sprechen, jetzt erst recht.“ Alle 17 Teilnehmer loggten sich am nächsten Tag zum Videocall ein.
Unter ihnen war auch Gali Blay, die nun neben Halabi in einem Café in Berlin Neukölln sitzt. Sie hat eine Cousine, deren Familie in Be’eri lebte, einem der Kibbutzim, in dem die Terroristen schlimmste Gräueltaten verübten. "Zu dem Zeitpunkt hatte ich die Tragweite noch gar nicht begriffen, ich stand einfach unter Schock. Alle waren unter Schock“, erinnert sie sich. Später erfuhr sie, dass Teile ihrer Verwandtschaft ermordet worden war. Sie sei einfach nur traurig, erzählt Blay. "Ich habe meine Heimat verloren“, sagt sie. Und doch – oder gerade deswegen – dachte sie auch schon am 8. Oktober an die Menschen in Gaza. "Meine Befürchtung war, dass die Reaktion von israelischer Seite extrem hart sein würde. Ich ahnte, es würde auch viele Zivilisten in Gaza treffen.“
Kurz nach dem 7. Oktober begann das israelische Militär mit massiven Luftschlägen auf Gaza, es folgten eine Bodenoffensive und eine weitreichende Abriegelung des Küstenstreifens. Mehr als 30.000 Palästinenser wurden nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums bislang in Gaza getötet, davon zwei Drittel Frauen und Kinder.
Die Vereinten Nationen warnen zudem, die Menschen im Gazastreifen stünden vor einer Hungersnot. Und noch immer befinden sich mehr als 100 israelische Geiseln in der Gewalt der Hamas, die von der EU, den USA und anderen als Terrororganisation eingestuft wird. Die Chancen auf einen Dialog zwischen Israelis und Palästinensern könnten nicht schlechter stehen. Allein die Tatsache, dass Israelis und Palästinenser sich in diesen Zeiten gemeinsam in einen Raum setzen, erscheint wie ein Wunder.
Kann man lernen, miteinander zu sprechen?
"Zu Beginn jeder neuen Gruppe“, so sagt Halabi, "beschließen wir gemeinsame Regeln, wie wir miteinander sprechen wollen.“ Niemand, so Halabi, wolle beschimpft oder verletzt werden. Klare Erwartungshaltungen zu formulieren, verhindere, dass es dazu komme. Die wichtigste Regel: Einander zuhören. "Einige Palästinenser fragten zum Beispiel: Was geht in einem israelischen Soldaten vor, der Gaza bombardiert?“
Es sind heikle Themen, bei denen es zum Teil sehr emotional zugehe. Bei der Begegnung in Berlin wurde viel geweint, man habe einander aber auch umarmt, erzählen Halabi und Blay. "Es war, als lebte man in einer anderen Realität“, sagt Blay, "in einer Welt, die von Liebe und Respekt geprägt ist.“ Die Realität sehe meist ganz anders aus. “Menschen hören einander nicht zu.”
Auch in Europa und besonders in Deutschland sei der Dialog über den israelisch-palästinensischen Konflikt vergiftet. Menschen würden einander sofort abstempeln, auch der Vorwurf des Antisemitismus werde für sie – einer Enkelin von Holocaustüberlebenden – in Deutschland viel zu schnell vorgebracht. "Das ist das Gegenteil von dem, wie wir in der Gruppe miteinander kommunizieren.“
Mehr als ein Therapieraum
Seit dem 7. Oktober sei deutlicher denn je, dass sich etwas ändern müsse – für Israelis und für Palästinenser. "Wir wollen einen Wandel“, so Halabi und die Hoffnung darauf gebe er nicht auf. "Menschen auf beiden Seiten werden dazu erzogen, einander zu hassen. Sie werden durch Angst sozialisiert. Aber ich habe Menschen erlebt, die sich nach den Begegnungen verändert haben.“ Ziel sie es ganz klar, einen sozialen Wandel von unten zu bewirken, Menschen dazu zu bewegen, sich zu engagieren, zu Aktivisten zu werden. "Wie genau sie das tun, liegt dann in ihrer eigenen Hand."
Seba Abu Daqa und Tom Kellner und Gali Blay sind aktiv geworden. Gali Blay erstellte die Homepage für die Initiative "Clean Shelter". Die Sanitäranlagen, die sie haben bauen lassen, bieten nicht nur einen Quadratmeter Privatsphäre. Sie können Leben retten. Hilfsorganisationen warnen seit langem vor Krankheiten durch mangelnde Hygiene in Gaza. Es mangelt an sauberem Wasser zum Trinken und Waschen.
Wie lange die Zelte und Toilettenkabinen stehen werden, wissen sie nicht. Das israelische Militär kündigt seit einiger Zeit an, es plane eine Bodenoffensive in Rafah, im Süden des Gazastreifens. Was dies für die "Schutzzone" Al-Mawasi bedeutet, ist unklar. "Aber immerhin tun wir jetzt etwas“, sagt Abu Daqa, "anstatt immer nur verzweifelt zuzuschauen und zuzulassen, dass andere die Akteure sind.“
© Qantara.de 2024