Poesie gegen Ausgrenzung
Versteckt in einer unscheinbaren Gasse in einem Arbeiterviertel der ostiranischen Millionenstadt Maschhad liegt eines der ehrgeizigsten Kulturprojekte unter afghanischen Flüchtlingen: das Literaturinstitut "Dorr-e Dari" (Die Perle der Dari-Sprache). Hier kommen jede Wochen junge Exilafghanen zusammen, um selbstgedichtete Verse zu besprechen und Stilkritik zu üben.
Mit Staunen schildert die Kulturanthropologin Zuzanna Olszewska ihren ersten Besuch im "Dorr-e Dari" im Jahr 2005. Eine 25-jährige Afghanin, die im Iran groß geworden ist, gekleidet im traditionellen Tschador, verliest ihr neuestes Gedicht - eine anspruchsvolle und unverhohlene Kritik der Geschlechterverhältnisse in ihrer Umwelt.
So eröffnet sich eine neue Perspektive auf die Afghanen im Iran: Sie sind nicht mehr unterdrückte und sprachlose Migranten, sondern suchen nach kreativen Wegen, um ihren Sorgen und Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Aus Olszweskas Faszination für das Thema erwächst eine Doktorarbeit, die 2015 unter dem Titel "The Pearl of Dari" in Buchform erschienen ist.
Intellektuell aufgeweckt
Wie kommt es, dass junge Afghanen, deren Eltern einst landlose Bauern waren und nun zumeist als Handlanger arbeiten, intellektuell so aufgeweckt sind? Um das zu erklären, verschafft uns Olszewska einen breiten Überblick über die Geschichte der persischen Dichtung sowie die Vergangenheit der afghanischen Diaspora. Gleichzeitig blickt die Forscherin auf die politisch-gesellschaftliche Dynamik im modernen Iran und navigiert dabei kenntnisreich durch diverse Themengebiete.
Das Buch lehrt den Leser viel über eine vielschichtige Region. Die persische Sprache, aus der ein gewaltiger Literaturreichtum hervorgegangen ist, ist bis heute der offensichtlichste kulturelle Nenner zwischen Iranern und Afghanen. Für Afghanen, die den Anschluss an literarische Aktivitäten im Iran suchen, ist die Beschäftigung mit Dichtung ein kultureller Aufstieg. Das Gedicht ist so persönliches Sprachrohr wie gesellschaftliche Emanzipation zugleich.
Die ersten großen Fluchtbewegungen von Afghanistan ins westliche Nachbarland liegen fast vierzig Jahre zurück. Rund die Hälfte der Afghanen im Iran stammt aus der schiitisch geprägten Hazarajat-Region, die in Afghanistan als besonders unterentwickelt gilt. Neben Krieg sind Armut, Unterdrückung und die Wahrnehmung des Iran als schiitischer Bruderstaat wichtige Faktoren für die Migration der Hazaras in den Iran.
Der Iran wird im Vergleich mit der eigenen Heimat von Afghanen nicht nur als wirtschaftlich entwickelter wahrgenommen, sondern auch als korrekter in der religiösen Praxis. Wie Olszewska zeigt, sehen Afghanen die iranische Religionsausübung als modern und von Aberglauben befreit. Im Iran können afghanische Frauen zudem eine öffentliche Rolle einnehmen, die in Afghanistan undenkbar wäre.
Zwischen Identifikation und Entfremdung
Nach Schätzungen des iranischen Innenministeriums leben heute rund drei Millionen Afghanen im Land. Ihre Situation ist prekär: Der Großteil der Flüchtlinge hat keinen festen Aufenthaltsstatus und wird vom Staat als "illegal" etikettiert. Dadurch werden den Afghanen Bürgerstatus und soziale Grundrechte verwehrt. Die gesellschaftliche Diskriminierung reicht so weit, dass Afghanen die Reise in beliebte Feriengebiete untersagt wurde. Dabei machen die Afghanen im Iran einen wichtigen Teil der Arbeitskräfte aus: Sie arbeiten in harten und gefährlichen, meist unterbezahlten Berufen und gelten als zuverlässig.
Olszwekas Buch zeigt, dass die Identitätsfrage der im Iran lebenden Afghanen nicht einfach zu beantworten ist. Die Gefühle der Afghanen gegenüber dem Iran schwingen zwischen Identifikation und Hoffnung sowie Entfremdung und Verzweiflung. Dichtung ist in diesem Spannungsfeld eine zutiefst persönliche Aktivität, ein "Ventil für Kummer und Enttäuschung in der Privatsphäre des eigenen Notizbuches", wie Olszewska schreibt. Die Unsicherheit der Illegalität und die Erfahrungen von Deportation und Gefängnis sind wiederkehrende Themen in den Gedichten, die Olszweska im Buch dokumentiert hat.
Der Forscherin gelingt ein Narrativ, das sich aus Theorie und scharf beobachteter Feldforschung zusammensetzt. Olszweska zieht viele intelligente Verbindungslinien: etwa, wie die von unerfüllter Romanze geprägten Liebesgedichte junger Afghaninnen in die größere Tradition der mystischen persischen Liebesdichtung passen. Oder, dass die konsequente Islamisierung des öffentlichen Raums im Iran zur Emanzipation der aus konservativen Schichten stammenden Afghaninnen geführt hat.
Reflexion der Methoden
Dabei reflektiert die Anthropologin stets ihre Methoden, eröffnet eigene Lernprozesse und Herausforderungen bei der Arbeit. Besonders interessant ist es zu lesen, wie sich Olszewska in iranischen und afghanischen Haushalten selbst mit der Zeit die traditionellen Verhaltenskodizes angewöhnt. So wird es der Forscherin bald selbst unangenehm, im Haus vor Männern das obligatorische Kopftuch abzunehmen. Den essentiellen Konflikt zwischen Selbstkontrolle und Selbstausdruck, dem ihre Forschungssubjekte unterworfen sind, erfährt Olszewska so am eigenen Leibe.
Das Produkt von zwölf Monaten Feldforschung in Maschhad wird so zu einem spannenden Einblick in die Arbeit einer Kulturanthropologin. Gleichzeitig ist Olszewska ein gutes Beispiel, wie Forschung aus dem akademischen Elfenbeinturm herabsteigen und einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Sensibilisierung leisten kann.
Die nahe Beschäftigung mit Dichtung, die in der persischsprachigen Welt eine kulturelle Eigendynamik besitzt wie in keiner anderen Region, wird hierbei auch zu einem Spiegel auf die iranische Gesellschaft - weitaus vielschichtiger als es die meisten Iran-Studien aus ausländischer Feder sind.
Marian Brehmer
© Qantara.de 2017
Zuzanna Olszewska: "The Pearl of Dari: Poetry and Personhood Among Young Afghans in Iran", 288 Seiten (engl.), Verlag: “Public Cultures of the Middle East and North Africa”, ISBN 13: 9780253017604