Kobanê ist überall
Als Recep Tayyıp Erdoğan am 10. August zum Präsidenten gewählt wurde, flog er nach Ankara, um sich vom Balkon der AKP-Zentrale an die Bevölkerung zu wenden. In den ersten Minuten seiner Rede sagte er: "Heute hat nicht nur die Türkei, heute haben Damaskus, Aleppo, Hama, Homs, Ramallah, Nablus, Gaza und Jerusalem gewonnen."
Doch von dieser internationalen Solidarität war bereits am 11. Oktober in der Schwarzmeerstadt Rize nicht mehr viel gebliebenen: "Kobanê? Was hat Kobanê mit Istanbul, Ankara und Diyarbakır zu tun?", so Erdoğan.
In den nordirakischen Kandil-Bergen, etwa 1.000 Kilometer südlich von Rize, sah dies zwei Tage zuvor der stellvertretende Vorsitzende der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Cemil Bayık, nicht so wie der türkische Präsident. In einem kleinen Dorf, das von der PKK kontrolliert wird, erklärte Bayık, der zu den Gründungsmitgliedern der PKK zählt, dass die Ereignisse in Kobanê und in der Türkei nicht getrennt voneinander betrachtet werden könnten. "Für uns ist jetzt überall Kobanê!", so Bayık.
Mit "Ereignissen" umschrieb er euphemistisch die schweren Ausschreitungen in der gesamten Türkei im Zusammenhang mit dem IS-Vormarsch auf Kobanê, bei denen fast 40 Menschen getötet wurden, darunter zwei türkische Polizisten und zwei Ausländer.
Aufgeheizte Atmosphäre
Die Atmosphäre in den türkischen und kurdischen Städten ist so aufgeheizt, weil die Kurden der AKP-Regierung vorwerfen, den IS aktiv zu unterstützen und in Syrien eigentlich nur gegen die PKK und ihren syrischen Ableger YPG sowie gegen das Assad-Regime kämpfen zu wollen.
Für Bayık hat die Türkei mit der Unterstützung des IS zwei Ziele: Erstens den Autonomiestatus der Kurden in der nordsyrischen Kurdenregion Rojava zunichte zu machen und zweitens dadurch in Syrien und Irak zu einem dominanten Akteur zu werden, der dann den IS als Verhandlungsmasse benutzen könnte.
Beweisen lässt sich das freilich nicht. Zur Untermauerung dieser Vorwürfe dient vielen deshalb die parlamentarische Ermächtigung, die mit den Stimmen der AKP-Mehrheit am 2. Oktober im türkischen Parlament verabschiedet wurde. Diese erlaubt es der türkischen Armee, im Irak und Syrien militärisch einzugreifen.
Der Friedensprozess vor dem Aus?
"Was sieht diese Ermächtigung vor?", fragt Bayık kritisch. "Sie sieht Krieg vor. Der IS kommt darin kaum vor, dagegen die PKK. Die Verabschiedung dieser Ermächtigung durch das Parlament kommt vielen Kurden als Beendigung des Friedensprozesses vor."
Der türkische-kurdische Friedensprozess hatte ursprünglich im Jahr 2009 zwischen dem türkischen Geheimdienst MIT und der PKK durch Geheimgespräche in Oslo begonnen. Er konkretisierte sich aber vor allem im Zuge der Newroz-Feierlichkeiten zum kurdischen Neujahr am 21. März 2013 in Diyarbakır, bei der eine Erklärung des inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan verlesen wurde. Darin sprach er von Waffenruhe und dem Rückzug der PKK-Einheiten aus der Türkei in den Nordirak. Dies sollte der erste Schritt eines Verhandlungsprozesses sein, der von politischen Reformen in der Türkei und von einer Wiedereingliederung der PKK und ihrer Kämpfer in die Gesellschaft begleitet werden sollte.
Doch davon ist man heute wieder weit entfernt, meint der stellvertretende PKK-Chef, weil es angeblich keine politischen Reformen in der Türkei gegeben habe. Dabei übertreibt Bayık, denn es gab seit 2009 durchaus mutige Schritte der türkischen Regierung, wie etwa die Einführung des kurdisch-sprachigen Fernsehkanals TRT6 sowie Fakultäten, an denen Kurdisch und Kurdologie gelehrt wird.
Rückfall in die blutigen 1990er Jahre?
Allerdings haben die vergangenen Wochen das sowieso schon schwach ausgeprägte Vertrauen in die andere Seite weiter erschüttert. Inzwischen ist man wieder beim Zustand vor den Newroz-Feierlichkeiten von 2013 zurückgefallen. Und die Gefahr besteht, dass man wohlmöglich wieder eine Neuauflage der konfliktreichen 1990er Jahre erleben könnte – eine Zeit, die man vor dem Hintergrund des damaligen EU-Beitrittsbegehrens der Türkei eigentlich für überwunden hielt.
"Wir wollen nicht, dass unsere Guerilla wieder aktiv wird", beteuert Bayık. "Trotz der Toten und Verletzten haben wir sie noch nicht in Bewegung gesetzt. Doch das kann sich ändern, wenn die Entwicklung so weitergeht. Wir werden dann einen Verteidigungskrieg für das Volk führen."
Noch so ein Euphemismus. Denn ein "Verteidigungskrieg", wie Bayık ihn meint, würde wohl noch mehr Tote, Anschläge, Autobomben sowie Militäraktionen zur Folge haben und die Türkei und die PKK keinen Schritt näher bringen, sondern beide Seiten, Kurden und Türken, noch weiter entfremden.
Darüber hinaus wird Kobanê auch nachhaltigen Einfluss auf die Beziehungen der Kurden untereinander in den verschiedenen Regionen, in der Türkei und den Kurden Syriens und Iraks haben. Alle kurdischen Fernsehkanäle – ob Rudaw, Gali Kurdistan, Rohani oder Kurdsat beginnen ihre Nachrichtensendungen seit Tagen mit der Situation in Kobanê, ihre Reporter sind vor Ort im Einsatz.
Am 8. Oktober fand im Zentrum Erbils eine Kobanê-Solidaritätsdemonstration statt, die von 35 Parteien und rund 5.000 Menschen unterstützt wurde. PKK-Fahnen schwenkend marschierten die mehrheitlich irakischen Kurden zum UNO-Sitz in Erbil und skandierten "Kobanê, leiste Widerstand!" Wenn Erdoğan schon keine Solidarität mit den kämpfenden Kurden in Kobanê zeigt, so hat er wenigstens erreicht, die Solidarität unter den Kurden zu stärken.
Ekrem Güzeldere
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