Die Türkei sucht den Super-Muezzin
Seit den Anfängen des Islam ist der Gebetsruf fester Bestandteil des Glaubenslebens der Muslime. Der erste Muezzin, Bilal, ein befreiter Sklave äthiopischer Abstammung, soll ein beeindruckend lautes Organ besessen haben. Bilal rief die frühen Gläubigen auf den Gassen von Mekka zu den fünf Gebetszeiten zusammen. Das Ritual lebte weiter: Traditionell sollte der ezan von schöner Stimme rezitiert werden, sodass die Menschen - berührt von der Melodie - möglichst rasch ihren Weg in die Moschee finden.
Demnach ist der ezan nicht nur ein Mittel zum religiösen Zweck, sondern auch eine eigenständige Kunstform, zu deren Ausführung es einer besonderen Gabe bedarf. Während die Muezzine früher direkt von den Minaretten der Moscheen riefen, wird der Gebetsruf heute meist über Lautsprecher in die Straßen und Plätze der Städte und Dörfer übertragen.
Auch wenn in der Türkei nicht alle Rufer von sonderlicher Begabung sind, so wählen zumindest die großen, historischen Moscheen vom Bosporus ihre Muezzine mit viel Bedacht aus. Einen Einblick in ihre Welt gibt der Dokumentarfilm "Muezzin" von Sebastian Brameshuber, der in den großen Gotteshäusern von Istanbul recherchiert hat.
Vokale Polyphonie
In seiner Dokumentation porträtiert der österreichische Regisseur zwei Istanbuler Muezzine, die beim nationalen türkischen Muezzin-Wettbewerb antreten, einer Art "Die Türkei sucht den Super-Muezzin". Die besten Gebetsrufer der Türkei wetteifern dabei Jahr für Jahr um den Titel des begabtesten Muezzins im Land.
Während der Gebetsruf in den Straßen von Istanbul von fast 3.000 Moscheen erschallt, sind die Muezzine jedoch praktisch unsichtbar. Die Menschen hören sie, jeder hat seine eigene Lieblingsstimme, doch die meisten haben nie selbst einen getroffen.
Brameshuber war bei seinem ersten Istanbul-Besuch besonders fasziniert von der vokalen Polyphonie, die sich zu den Gebetszeiten ergibt. Dann erfuhr er im Gespräch mit einem Muezzin von dem nationalen türkischen Muezzin-Wettbewerb. Das Thema für seinen ersten Dokumentarfilm war gefunden.
Einblick in die Lebenswelten der Muezzine
Brameshuber gelingt es in seinem Film "Muezzin" einen authentischen Einblick nicht nur in die Kunst des Gebetsrufes, sondern auch in die Lebens- und Gedankenwelt der Muezzine zu erlangen. Da ist zum Beispiel Halit Aslan, der aus Ostanatolien nach Istanbul gekommen ist. Beim Frühstück sitzt Aslan auf dem Balkon mit seinen zwei Söhnen, schiebt ihnen Brot mit Käse in den Mund und erzählt, warum er gerne in Istanbul lebt.
Hier sei das Zentrum der Gebetsrufer, es gäbe mehr Aufstiegschancen für einen guten Muezzin. Außerdem sei er stolz, in der Nähe des "Fatih" zu leben, des Eroberers von Istanbul, der auf der europäischen Stadtseite begraben liegt.
Wie nahe das Singen des ezan, der im türkischen Kontext innerhalb der klassischen makam-Tonleiter rezitiert wird, an der weltlichen Singkunst liegt, erfährt der Zuschauer von Mustafa Yaman, dem Gewinner des letzten Ezan-Wettbewerbs. "Wäre ich nicht auf die religiöse Schule gegangen, dann wäre ich wohl Sänger geworden", reflektiert Yaman und deutet stolz auf einen Zeitungsartikel, der über seinen Sieg vom letzten Jahr berichtete.
Isa Aydin, ein Muezzin aus einer Vorortmoschee, der mit seiner hohen Stimme die Jury überzeugen will, philosophiert über Ruf und Berufung eines Muezzins: "Ich frage mich immer, ob durch meinen ezan wohl eine Person zum Beten veranlasst wird. Je mehr Menschen ein Muezzin in die Moschee locken kann, desto erfolgreicher ist er."
Milieustudie eines wichtigen Teils der türkischen Gesellschaft
Je tiefer wir über die Dokumentation in die Weltsicht der Muezzine eindringen, desto mehr rückt die Musik beizeiten in den Hintergrund und Brameshubers Film wird zur Milieustudie einer wichtigen Schicht in der türkischen Gesellschaft.
In der Küche von Habil Öndes, dem unumstrittenen Meister des Gebetsrufes und gefürchteten Oberhaupt der Muezzin-Jury, wirbeln Frauen eifrig umher, damit Öndes sein Abendessen erhält. Brameshuber scheint diese Szenen aus über 150 Stunden Filmmaterial ausgewählt zu haben, um das konservative Verhalten seiner Subjekte herauszustellen.
Erfrischend menschlich-normal wirkt die Einfachheit und Anstrengung der Muezzine, die unbedingt ihre Jury überzeugen wollen. Dafür wird regelmäßig Milch mit Honig getrunken, für die perfekte Stimme, und intensiv geprobt. Beim Wettbewerb, der in einer Moschee vor Männerpublikum stattfindet, herrschen Schweiß und allgemeines Zittern vor.
Die Glaubensbrüder, herausgeputzt in feinen Anzügen, sind nun einander erbitterte Konkurrenten. Als Isa Aydin am Ende den Istanbul-Sieg einholt, um die Metropole auf nationaler Ebene zu vertreten, zeigt sich Halit Aslan gekränkt. Er scheint seinem Widersacher den Sieg nicht zu gönnen und beschwert sich, dass doch immer höhere Stimmen gegenüber den tieferen bevorzugt würden.
Brameshuber sagt über seinen Film: "Ich habe meine Protagonisten als sehr pragmatische Männer erlebt, die ihre Arbeit in der Tat mit Leidenschaft verfolgen, jedoch dabei eher die musikalischen, als die spirituellen Aspekte erwähnen."
Somit sind am Schluss von "Muezzin" die für uns mitunter jenseitig anmutenden ezan-Stimmen, die aus den Moscheen erschallen, ganz und gar irdischen Personen zugeordnet, die sich nach Anerkennung und Erfolg sehnen und mit ihrer naiven Ernsthaftigkeit manchmal den Zuschauer zum Schmunzeln bringen können. So liegt das Verdienst der Dokumentation darin, dem türkischen Islam mittels der Geschichten der türkischen Muezzine mit all ihren Ambitionen und Sorgen ein gänzlich menschliches Gesicht zu verleihen.
Marian Brehmer
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