Das Kalifat ist längst Realität geworden
Sie gehen routiniert vor. Drei Tage vor dem Angriff auf Ramadi überfallen die schwarz gekleideten, selbst ernannten Gotteskrieger eine kleine Militärbasis am Tharthar-See, nicht weit von der Provinzhauptstadt entfernt. Sie ermorden 185 Soldaten der irakischen Armee. Darunter ist der Divisionskommandeur, der ihre Absicht nicht ahnt. Seine Untergebenen bleiben ohne Befehle zurück und mit der Angst im Nacken, dass sie als nächste dran sind.
Danach ist es ein Leichtes für "Daesh", wie der IS im Irak genannt wird, eine weitere Großstadt unter ihre Kontrolle zu bekommen. Es folgen die Eroberung der umliegenden Orte und Gemeinden zur Festigung ihrer Stellungen, das Errichten von Kontrollpunkten, Hausdurchsuchungen zur Ergreifung regierungstreuer Polizisten oder Soldaten. Danach werden die schwarzen Dschihadisten-Fahnen gehisst, wo immer sie einen Blickfang darstellen. Ein Statthalter wird bestellt, um die Alltagsgeschäfte zu organisieren. Und wer auf das Kalifat und den Kalifen Ibrahim schwört, bekommt einen Job oder kann seine ursprüngliche Arbeit fortführen.
So war es in Mossul, Tikrit, Tal Afar, Sindschar und zuallererst in Falludscha. Ein Jahr nach dem allgemein als Blitzinvasion bezeichnetem Einmarsch des IS im Irak, nimmt das Islamisten-Kalifat konkrete Formen an. Dabei kommt der Provinz Anbar westlich von Bagdad eine Schlüsselrolle zu.
Alles unter Kontrolle
Iraks flächenmäßig größte Provinz reicht bis zur syrischen und jordanischen Grenze auf der einen, und Bagdad auf der anderen Seite. Den Grenzübergang Al-Qaim zu Syrien haben die Dschihadisten schon längst fest in ihrer Hand. Auf der syrischen Seite ist ihr Einflussbereich noch größer. Die Grenze ist offen und unkontrolliert. Ein Staatsgebilde zeichnet sich ab.
Ganz anders der Übergang zu Jordanien. Dort kontrolliert "Daesh" und erhebt Zölle und Gebühren für die Durchfahrt. Ansonsten ist die Grenze mit Stacheldraht und Minenfelder gesichert. Ein LKW-Fahrer berichtet, dass die Durchfahrt eigentlich problemlos sei. Trotzdem trauen sich nur wenige. Die meisten Güter kommen jetzt über den Norden in den Irak oder per Schiff nach Basra.
Anbar ist eigentlich hässlich. Die Provinz ist flach wie ein Brett und besteht zu einem Großteil aus Wüste. Die heißen Schamal-Winde wirbeln hier heftiger als woanders Staub und Sand auf. Die Provinz verfügt über kein Öl und nur über ein kleines Gasfeld. Auch die Provinzhauptstadt Ramadi könnte in keinem Schönheitswettbewerb bestehen, ebenso wenig wie Falludscha. Außer 88 Moscheen und einem hervorragenden Kebab-Restaurant, hat sie nichts zu bieten.
Der Nährboden für die Ideologie des IS
Und doch entsteht gerade hier die Wiege des neuen Staates. Denn es ist nicht nur die militärische Übermacht, die einen Staat festigen oder zerfallen lässt. Es sind die Menschen, die in ihm leben. In Anbar ist es die Symbiose aus Religion und Stammestradition, der die Einwohner verhaftet sind und die archaischen Strukturen festigt und aufrechterhält. Sie bietet den Nährboden für die Ideologie des IS.
Besonders in Falludscha wird dies deutlich. Sie ist mit 310.000 Einwohnern die größte Stadt der Provinz und schon seit Januar 2014 in der Hand des IS. Obwohl viele Einwohner geflohen waren, sind viele inzwischen wieder zurückgekehrt. "Wir waren schon immer traditionell konservativ", erklärt Scheich Saadon aus Falludscha, "man kann auch sagen: islamisch konservativ."
Die Frauen sind ausnahmslos tief verschleiert, tragen zumeist schwarze, lange Mäntel, auch im Sommer. Gesichtsschleier sieht man hier häufiger als anderswo im Irak. Frauen gehen dort kaum aus und wenn, dann nur in Begleitung eines Mannes. Nach Einbruch der Dunkelheit müssen sie zuhause sein. Die Welten sind strikt getrennt. Selten bekommt ein männlicher Besucher die Frau des Hauses zu sehen. Männer sind unter sich, Frauen ebenso.
"Die Scharia haben wir schon lange praktiziert", erzählt der Scheich, der zwei Frauen und zehn Kinder hat. In Anbar herrscht eine eigene Gesetzmäßigkeit, die des Islam und der Stämme. "Als Al-Qaida kam, haben uns die Amerikaner bombardiert. Jetzt mit 'Daesh' lassen sie uns in Ruhe."
Während die Amerikaner Luftangriffe auf Ramadi fliegen, klammern sie Falludscha aus. Die ausländischen IS-Kämpfer, die jetzt nach Anbar kämen, würden sich den Sitten der Einwohner anpassen. So sieht es der Scheich. In Falludscha würde jetzt auch Französisch gesprochen. Das sei vorher nicht der Fall gewesen.
Staat oder Stamm?
Scheich Saadon steht beispielhaft für die Biografien einer Vielzahl von Menschen in Anbar. Schon zu Saddams Zeiten stand er vor der Frage Staat oder Stamm. Das tut er jetzt wieder. Als Pilot der irakischen Luftwaffe musste er in die Baath-Partei eintreten, sonst hätte er den Job nicht bekommen. "Wenn du nicht aus Tikrit warst und zum inneren Zirkel Saddams gehörtest, hattest du auch als Sunnit nur eine Chance, wenn du in der Partei warst", erinnert er all diejenigen, die ihm die Parteizugehörigkeit jetzt vorwerfen. Auch Schiiten seien zuhauf Baathisten gewesen.
Als die Amerikaner kamen und die Armee auflösten, verlor er seinen Job und musste Taxi fahren in Bagdad. Eine Schmach, wie er es empfindet. Jetzt bildet der 55-Jährige junge "Daesh"-Kämpfer aus und bekommt gutes Geld dafür. Er wird wieder gebraucht.
Zwischendurch sei es mal anders gewesen, als die sogenannte "Sahwa" – die Allianz zwischen der US-Armee und den Stämmen – gebildet wurde um Al-Qaida zu vertreiben. Da habe auch er Waffen und Geld bekommen. Als die Amerikaner weg waren, habe jedoch der schiitische Premier Nuri al-Maliki von den Sunniten nichts mehr wissen wollen und die Zahlungen an die "Sahwa"-Kämpfer eingestellt. Saadon hat die Waffen an "Daesh" verkauft.
"Anbar werden wir nie ganz zurückbekommen", prophezeit der irakische Parlamentsabgeordnete Mithal al-Alusi, der selbst aus Anbar stammt. Alus ist ein kleiner Ort bei Haditha, dort wo der Staudamm am Euphrat schon für heftige Gefechte sorgte. Wer ihn besitzt, kann die Wasser kontrollieren und entweder Flutwellen oder Dürre verursachen.
Spaltungen innerhalb der Stämme
Alusi weiß um die Macht der Stämme in seiner Provinz und auch um das Dilemma, in denen sie derzeit stecken. Während in Falludscha die meisten für "Daesh" sind, seien sie in Ramadi gespalten. Und nicht nur dort. Auch in seiner Umgebung Haditha gäbe es heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Stämme, ob man sich der "Al-Hashb al-Shabi" – wie die Anti-"Daesh"-Allianz genannt wird – anschließen soll oder nicht.
Diese Kräfte vereinen sunnitische, aber überwiegend schiitische Verbände, Stammesführer und Soldaten der irakischen Armee. Der Albu-Nimr-Stamm sei ein gutes Beispiel dafür, wie gewaltvoll diese Kontroversen ausgetragen werden, sagt Alusi.
An dem Massaker Ende letzten Jahres, bei dem über 300 Männer dieses Stammes brutal ermordet wurden, seien nicht nur die ausländischen Kämpfer von "Daesh" beteiligt gewesen, sondern auch die sich zu "Daesh" bekennenden Stammesmitglieder.
Birgit Svensson
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