Glauben ohne Kopftuch
Ihr Entschluss schlug hohe Wellen – sowohl in Deutschland als auch in der Türkei. Emel Abidin-Algan, Tochter des Gründers der islamischen Vereinigung Milli Görüs, legte nach über dreißig Jahren ihr Kopftuch ab. Die 45-jährige Mutter von sechs Kindern sprach mit Ariana Mirza über ihre Beweggründe.
"Es ist absurd anhand von äußeren Merkmalen auf die Gläubigkeit von Menschen zu schließen!" Emel Abidin-Algan formuliert druckreife Sätze. Darin hat sie Übung. Bereits vor einigen Jahren mischte sich die damalige Vorsitzende eines islamischen Frauenvereins in die bundesdeutsche Kopftuchdebatte ein – mit recht unkonventionellen Vorschlägen.
Zunächst kreierte Emel Abidin-Algan gemeinsam mit Berliner Designerinnen modische Hutmodelle als Alternative zum umstrittenen Kopftuch. Dann, Anfang 2005, legte sie ihre eigene Kopfbedeckung ersatzlos ab.
Seither hat sich vieles im Leben der sechsfachen Mutter geändert. Sie tanzt in einer irischen Folklore-Gruppe, betreibt den Kampfsport Aikido in einem gemischten Team und hat ein Abendstudium aufgenommen.
Um ihre drei jüngsten Kinder, die noch zuhause leben, kümmert sich Emel Abidin-Algan zwar weiterhin gemeinsam mit ihrem Mann, doch die Trennung ist beschlossene Sache. Denn die neuen Einstellungen seiner Frau will der konservative Ehemann nicht akzeptieren.
Reflektion statt Tradition
Erst durch die selbständige Beschäftigung mit den Offenbarungen im Koran sei sie zu neuen Sichtweisen gelangt, erklärt die 45-Jährige. Seither plädiert Abidin-Algan für eine selbst bestimmte Meinungsbildung – nicht nur im Hinblick auf die Form der Bedeckung. Sie möchte dazu anregen, eigene Koranforschungen zu betreiben und den historischen Kontext, die "Offenbarungsgründe" zu untersuchen.
Muslimische Frauen fordert Abidin-Algan dazu auf, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Das hieße aber nicht, dass "nun alle Kopftuchtragenden ihren Kopf enthüllen müssten". Vielmehr ginge es bei der Wahl der Bedeckung um die individuelle, natürliche Scham. "Ich gehe zum Beispiel nur mit Leggings unter dem Badeanzug schwimmen. Denn da liegt meine persönliche Schamgrenze."
Emel Abidin-Algan, so stellt sich schnell heraus, ist keine Feministin. Ihr geht es in erster Linie darum, die Koran-Interpretationen der Gelehrten für die heutige Zeit in Frage zu stellen. "Es herrscht ein Gesetzes-Islam und nicht der Islam des Propheten", behauptet sie streitbar.
Um ihre Aussagen zu untermauern, hat die eigensinnige Muslimin reichlich Material mitgebracht. Eifrig blättert die erstaunlich jung wirkende Frau in ihren Unterlagen. Rasch zieht sie eines der Manuskripte hervor, in denen sie ihre Thesen ausführlich dargelegt. "Hier, das ist mir besonders wichtig!" heißt es dann, und der Zeigefinger klopft energisch aufs Papier.
Das Thema der Verhüllung ist nur eines von vielen, die sie beschäftigen. So widerspricht sie auch dem weit verbreiteten Dogma des "strafenden Gottes" und meint, dass ein solches Bild gerade im Bereich der Erziehung großen Schaden anrichten könne.
Der größte und grundlegende Fehler aber sei es, den Glauben zu theologisieren und über hierachische Ebenen zu vermitteln. "Wir brauchen viel weniger religiöse und viel mehr gläubige Menschen", lautet ihr ureigenes Fazit.
Ein Islam des Friedens
Die in Deutschland aufgewachsene Tochter eines Irakers und einer Türkin versteht sich selbst als "Weltbürgerin". Ihrer Meinung nach resultieren viele vordergründig religiöse Vorschriften aus regionalen Gepflogenheiten.
Und wie reagiert das muslimische Umfeld auf Abidin-Algans Thesen? Eine heikle Frage, denn ihr Name steht in engem Zusammenhang mit einer Vereinigung, die unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht: Milli Görüs. Der Arzt Yusuf Zeynel Abidin, Emels früh verstorbener Vater, gründete Mitte der siebziger Jahre die deutsche Sektion dieser umstrittenen Organisation.
"Mein Vater hätte meine Intention verstanden", ist sich die Tochter sicher. Bei muslimischen Vereinigungen stößt ihr Verhalten bislang jedoch eher auf Nichtbeachtung oder Befremden. Abidin-Algan, die derzeit ein Abendstudium zur PR-Beraterin absolviert, vermisst einen konstruktiven Diskurs.
Sie hofft, dass zukünftig mehr junge Muslime, die in der westlichen Welt aufwachsen, in einen offenen Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft treten. Eine Abgrenzung, ob äußerlich oder innerlich, hält sie für schädlich.
"Diese jungen Leute könnten ihre Bildung und ihre Multikulturalität dazu nutzen, um den Islam als friedensstiftende Weisheit zu entdecken, statt einfach nur unreflektiert Traditionen nachzuahmen." Letztlich seien es ja die Muslime, die in einer nicht-islamischen Gesellschaft "den Glauben vorlebten", und somit auch das Bild vom Islam positiv prägen könnten.
Doch wie steht es um die Verantwortung der Nicht-Muslime? Stellt Abidin-Algan gar keine Forderungen an die deutsche Mehrheitsgesellschaft? "Doch", kommt es prompt. Es müsse mehr Interesse für den Islam aufgebracht werden. "Selbst in Regierungskreisen gibt es kaum fundiertes Wissen." Zudem habe der Terrorismus viele Deutsche in einer anti-islamischen Haltung bestärkt, die einer aufgeschlossenen Beschäftigung mit dem Glauben im Wege stünde.
In der westlichen Gesellschaft liege überhaupt vieles im Argen, resümiert Abidin-Algan. Gleichgültigkeit und Frustration bezeichnet sie als unmittelbare Auswirkungen des Konsumzeitalters. Es sei höchste Zeit, sich stärker den immateriellen Werten zu widmen. "Zum Beispiel dem Glauben und der Liebe", sagt sie lächelnd.
Ariana Mirza
© Qantara.de 2006
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