Kein Platz für Gefühle

Seitdem schiitische Milizen Jagd auf Anhänger der Emo-Jugendbewegung machen und unterschiedlichen Angaben zufolge bereits bis zu 90 von ihnen getötet haben, sind sie in der irakischen Hauptstadt wie vom Erdboden verschwunden. Einzelheiten von Birgit Svensson aus Bagdad

Von Birgit Svensson

Dass Tarek Emo ist, lässt sich äußerlich nicht erkennen. Sein Pony und die lange Haarsträhne, die zuweilen sein linkes Auge verdeckte, sind vor drei Monaten der Schere des Barbiers zum Opfer gefallen. Jetzt trägt der 22-Jährige einen Bürstenschnitt, wie ihn alle Männer im Irak tragen. "Lange Haare sind Frauen vorbehalten", sagt er, ganz das Rollenverständnis der Gesellschaft widerspiegelnd.

Nur noch die kleinen Löcher in den Nasenflügeln und den Ohrläppchen lassen erkennen, dass Tarek einmal anders ausgesehen hat. "Doch auch die verwachsen bald", kommentiert der junge Mann sein Äußeres. "Zuhause hören wir noch unsere Musik und tauschen uns über Facebook aus", sagt Tarek frustriert. "Aber nach außen darf nichts mehr dringen, sonst bringen sie uns alle um."

Mitte Februar ging die Jagd auf die Anhänger der Jugendkultur los. Die Sittenpolizei solle dem "schädlichen Phänomen" Einhalt gebieten, hieß es in einer Direktive des irakischen Innenministeriums.

Emos trügen Ringe in Zunge und Nase, sowie Bilder von Totenköpfen auf ihren T-Shirts. Sie propagierten den "Satanismus" und seien schwul.

Grassierende Intoleranz

Lehrer in Schulen und Dozenten an Universitäten wurden angehalten, Jugendliche mit derartigem Aussehen zu melden. Mit Zementblöcken habe man auf sie eingeschlagen, mit Ziegelsteinen oder sogar mit Hämmern. Die Opferzahlen schwanken zwischen 14 und 90. Offiziell wird dies dementiert. Doch Menschenrechtsgruppen und unabhängige Medien berichten von den grausamen Morden an Jugendlichen, die anders aussehen als die Mehrheit der 26 Millionen Einwohner zwischen Euphrat und Tigris.

Schiiten-Prediger Muqtada al-Sadr; Foto: dapd
Intoleranz und offener Hass gegen Andersdenkende: Der radikale Schiiten-Prediger Muqtada al-Sadr nannte die Emos kürzlich "verrückte Narren" und rief seine Anhänger auf, der "Plage innerhalb des Rechts" zu begegnen.

​​Jahrelang kämpften im Irak Sunniten gegen Schiiten, Aufständische gegen Besatzer. Seit 2009 ist es ruhiger geworden. Jetzt aber zeigen die Mordserie und die zunehmenden Bombenanschläge der vergangenen Wochen und Monate, dass der Staat noch immer nicht in der Lage ist, seine Bürger ausreichend zu schützen. Vor allem Minderheiten fühlen sich wieder zunehmend bedroht. Dies gilt nicht nur für die Emos, sondern auch für Christen und Jesiden, die übrigens unter Saddam Hussein als Teufelsanbeter verschrien und verfolgt wurden. Geschichte wiederholt sich zuweilen.

Die Verantwortung für die Emo-Morde schreiben Kenner der Szene den schiitischen Badr-Milizen zu. Von ihnen soll die Direktive des Innenministeriums ausgegangen sein. In einem unter der Hand veröffentlichten Schreiben der Badr-Organisation heißt es: "Es wurde entschieden, dass eine Zelle gegründet werden soll, um die Auslöschung der sogenannten Homosexuellen sicherzustellen, und diese Zelle wird ihre Aufgaben in den bekannten Gebieten aufnehmen."

Der lange Arm der Badr-Miliz

Die Badr-Miliz ist eine dem schiitischen Klerus und dem Hohen Rat der Islamischen Revolution (SCIRI) im Irak nahestehende Organisation, die im Iran gegründet wurde und nach dem Sturz Saddam Husseins mit den schiitischen Exil-Irakern ins Zweistromland kam. Ihre Stärke wird auf 10.000 Mann geschätzt.

Durch die Beteiligung des SCIRI an den beiden Übergangsregierungen der Post-Saddam-Ära konnte ein Großteil der Milizionäre die irakische Polizei und Armee unterwandern. Ihre Todesschwadronen trugen viel zum blutigen Gemetzel zwischen Sunniten und Schiiten in den Jahren 2006/07 bei. Inzwischen agiert die Badr-Miliz offiziell im Auftrag der Regierung und gilt als fest integrierter Teil der irakischen Sicherheitskräfte.

Da sich Premierminister Nuri al-Maliki bis heute nicht zu den Emo-Morden geäußert hat, werten Kritiker sein Schweigen als Zugeständnis gegenüber den Radikalen. Der gemäßigte Schiit sieht sich seit dem Abzug der US-Truppen Ende letzten Jahres einer Dauerregierungskrise ausgesetzt und ist zunehmend auf Stimmen aus dem radikal religiösen Lager angewiesen, um einen Misstrauensantrag im Parlament gegen sich abzuwehren.

"Verrückte Narren"

Graffiti gegen Emos; Foto: Gabriel Flores Romero/wikipedia
Im Visier radikaler Eiferer: Emos werden im Irak wegen ihrer androgynen Erscheinung grundsätzlich für Homosexuelle gehalten, stigmatisiert und verfolgt.

​​Auch bei Schiiten-Prediger Muqtada al-Sadr, dessen Anhänger in Malikis Regierungskoalition sitzen, dürfte die Jagd auf die Emos Sympathien hervorrufen, obwohl er die Verantwortung dafür strikt ablehnt. Seine Miliz, Mahdi-Armee, wurde in der Vergangenheit für den Mord an Dutzenden Schwulen in Bagdad verantwortlich gemacht.

Sadr nannte die Emos kürzlich "verrückte Narren" und rief seine Anhänger auf, der "Plage innerhalb des Rechts" zu begegnen. Auch seine Milizionäre sind teilweise in die irakischen Sicherheitskräfte integriert.

Selbst wenn Sadr und seine Mannen nicht an der Bluttat beteiligt sein sollten, entspricht sie doch ihren islamisch-fundamentalistischen Prinzipien. Mit Flugblättern werden Jugendliche derzeit aufgefordert, keine Rap-Musik zu hören und die Haare zu schneiden, sonst würde sie "Gottes Strafe" treffen.

Es ist erst fünf Jahre her, als Sadrs Mahdi-Armee auf Flugblättern den Frauen islamische Kleidung verordnete. Wer nicht den alle Haare verdeckenden Schleier (Hidschab) trüge und die Knie bedecke, würde von Allah bestraft, hieß es damals. Eine verheerende Verunsicherung griff um sich. Viele Frauen trauten sich oft monatelang nicht mehr aus dem Haus. Heute trotzen sie den religiösen Fanatikern. Immer mehr Frauen in Bagdad legen ihre Schleier wieder ab, und in manchen gemischten Stadtvierteln kann man vereinzelt sogar Miniröcke sehen.

Angst, vor die Tür zu gehen

Soweit sind Tarek und seine Emo-Kumpels noch nicht. Momentan herrscht in der Szene die pure Angst. „Manche trauen sich überhaupt nicht mehr raus", weiß der junge Iraker. „Sie sitzen nur noch zuhause vor dem Computer." Der Emo-Treff im Internet bietet ihnen die einzig verbleibende Möglichkeit, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen.

So kommunizieren Emos aus dem südöstlichen Bagdader Stadtteil Karrada mit denen aus dem nordöstlichen Sadr-City elektronisch. Sich zu treffen wäre tödlich. "Dabei wollen wir doch nur unsere Gefühle ausleben und sie anderen mitteilen", klagt Tarek.

Die Jugendkultur Emo, die in den 1990er Jahren als Reaktion auf die Heavy-Metal-Bewegung entstanden ist und ihren Ursprung in den USA hat, schien für die Jugendlichen in Bagdad wie geschaffen, um ihre durch Krieg und Terror entstandenen Traumata verarbeiten zu können.

Die Verbindung aus Hardcore-Musik und Emotionen – daher der Name – bietet genau die Mischung, die ihrem Zustand gerecht wird. Feinfühlig und verletzlich nach innen, aggressiv und laut nach außen. Doch Gefühle zu zeigen, zu diskutieren und auszudrücken mag für Männer in der westlichen Welt mittlerweile als normal gelten. In den arabischen Ländern ist dies ein Tabu. Männer, die dies tun, gelten als schwul und werden im Islam gnadenlos verfolgt. Sie sind abartig und müssen bekämpft werden, so die gängige Meinung.

Die Emos auf diese Schiene zu schieben, verheißt breite Zustimmung in der islamisch-konservativen Bevölkerung. Proteste und Demonstrationen gegen ihre Ermordung blieben im Irak bislang aus.

Birgit Svensson

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de