"Wir überlassen den Diskurs nicht den Hetzern“
Seit dem 7. Oktober seid Ihr aktiv und sprecht in Schulen mit Jugendlichen über den Krieg in Nahost. In Euren Social-Media-Kanälen schreibt Ihr, wie sehr die Gesamtsituation auch Euch selbst manchmal belastet. Darum erst einmal die Frage: Wie geht es Euch?
Jouanna Hassoun: Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich habe versucht, den Rat von meiner Mutter zu befolgen und drei Tage komplett abzuschalten, auch wenn mir das sehr schwergefallen ist. Jetzt muss ich mich wieder mehr mit der Situation auseinandersetzen und auch mit meinen Gefühlen dazu.
Shai Hoffmann: Ich bin besorgt. Um die Region und die Menschen, die dort leben und die ich liebe. Ich sorge mich, dass sich dort weitere Brandherde entwickeln. Gleichzeitig schaue ich in Richtung UN, wo Israel von Südafrika angeklagt wurde und sich verteidigen muss.
Das Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag wird auch Auswirkungen darauf haben, wie hier in Deutschland über das Thema gesprochen wird. Wir merken, wie viel Unsicherheit herrscht, und so wie ich das beobachte, wird sich die Stimmung weiter verhärten und noch komplizierter werden. Ich habe Angst vor noch mehr Hass zwischen Muslimen und Juden.
"Kein Konflikt emotionalisiert so sehr"
Warum setzten Sie mit Ihrer Arbeit gerade bei Jugendlichen an?
Hassoun: Auslöser war ein Gewaltakt zwischen einem Schüler und einer Lehrkraft an einem Berliner Gymnasium. Egal, wie man zu Israel und Palästina steht, Gewalt ist nie eine Lösung. Kein Konflikt dieser Welt emotionalisiert so sehr wie der Nahost-Konflikt.
Das hat uns deutlich gemacht: Wir müssen diese Emotionen auffangen. Wir müssen uns dem stellen als Menschen mit palästinensischen und mit jüdischen Wurzeln. Wir müssen einen Raum schaffen, in dem wir darüber sprechen, zuhören und die Geschehnisse einordnen können.
Wenn wir das nicht machen, besonders im Schulkontext, dann überlassen wir die Jugendlichen den Hetzern, Social Media oder Menschen, die unreflektiert sind und die vielleicht nur Hass und Hetze verbreiten wollen.
Hoffmann: Jugendliche sind eine sehr vulnerable Gruppe. Sie sind manipulierbar, unsicher. Sie haben schon mit ihrem eigenen Teenager-Dasein zu tun. Wenn wir sie erreichen wollen, dann geht das zu großen Teilen über den Lernraum Schule. Wir sehen es als große Verantwortung, als Privileg und als Vertrauensvorschuss, dass Lehrkräfte uns diese Räume ermöglichen.
Welche Emotionen erlebt Ihr bei den Schülerinnen und Schülern?
Hassoun: Angst, Wut, Enttäuschung, Unverständnis, manchmal Schmerz. Aber es gibt auch junge Menschen, die sagen: "Wir sind dankbar, dass wir in Sicherheit leben können“, und das als Privileg sehen.
Hoffmann: Da beginnt dann ja auch das Bewusstsein für Demokratie. Dass es so bleibt, dass wir in Frieden leben und man keine Angst haben muss, dass einem eine Bombe aufs Dach fällt, ist auch die Aufgabe von Schulen, von Zivilgesellschaft. Wir müssen und bewusst machen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, in einer Demokratie zu leben, gerade jetzt, da immer mehr autokratische Staaten entstehen.
Hassoun: Es ist wirklich traurig zu sehen, dass junge Menschen, die sich mit schönen Dingen beschäftigen sollten, Angst vor einem dritten Weltkrieg haben. Manchmal fließen auch Tränen bei Jugendlichen, die vom Nahost-Konflikt direkt betroffen sind, aber auch bei jenen, die durch andere Kriege traumatisiert sind.
Manchmal weinen aber auch junge Menschen, weil sie sagen: "Es gibt so viele Probleme, die Klimakatastrophe und so weiter, ich weiß gar nicht, womit ich mich noch auseinandersetzen soll. Ich bin mit meinen Gefühlen extrem überfordert.“
Unreflektiertheit in der Politik
Wofür wollt Ihr die Jugendlichen sensibilisieren?
Hoffmann: Wir wollen sie fürs Zuhören und für Empathie sensibilisieren, für Selbstreflexion und Ambiguitätstoleranz. Wir wollen, dass sie lernen, verschiedene Meinungen im Raum stehen zu lassen und nicht zu versuchen, die ganze Zeit auf der eigenen Meinung zu beharren.
Wir wollen, dass sie stattdessen auch die Meinung eines anderen vielleicht als Ergänzung zum eigenen Weltbild verstehen. Bei den Lehrkräften ist es unser Ziel, dass sie mit den Schülerinnen und Schülern auch über deren Gefühle sprechen und nicht nur Tests und Gedichtanalysen schreiben.
Was ist besonders belastend für Euch und was gibt Euch Kraft?
Hassoun: Ich habe selbst Krieg erlebt und wenn ich die Kriegsbilder sehe, Bilder, die meine Familie im Libanon postet, bin ich selbst wieder mittendrin im Krieg. Wenn ich die Bilder von Kindern in Gaza oder vom Massaker der am 7. Oktober, sehe, dann denke ich, dass uns jede Menschlichkeit abhandengekommen ist.
Am meisten belastet mich, dass ein Großteil der Gesellschaft nur Feindbilder sieht und keine Menschen. Zum Beispiel: "Alle, die in Gaza sterben, sind Terroristen und Hamas-Anhänger.“ Und umgekehrt: "Alle, die beim Massaker am 7. Oktober gestorben sind, sind unsere Feinde“. Was mir Hoffnung gibt, was mich auch stärkt, ist der ganze Support, den wir bekommen, gesamtgesellschaftlich, teilweise auch von den Medien. Und das, was von den Schülern und den Lehrkräften zurückkommt.
Hoffmann: Mich belastet der ideologische Riss, der durch Familien geht, auch durch meine. Dann beschäftigt mich natürlich die Frage, wie sich die Ereignisse in der Region geopolitisch entwickeln werden. Mit Blick auf Deutschland finde ich den belegten Anstieg des Antisemitismus und den antimuslimischen Rassismus besorgniserregend.
Gleichzeitig ist aber auch die Unreflektiertheit mancher Politiker erschreckend und wie die Gesellschaft auf die Ereignisse reagiert, denn nicht selten münden die Reaktionen in einer rassistischen Debatte. Das heißt, wir drehen uns immer im Kreis.
Auf der anderen Seite versuchen Jouanna und ich in den Schulen Feuerwehr zu spielen und halten einen dünnen Schlauch, aus dem ein paar Tröpfchen Wasser kommen, auf diesen Brand.
"Uns geht es um Augenhöhe und Anerkennung"
Wie erlebt Ihr die derzeitige Debattenkultur in Deutschland?
Hassoun: Israel-kritische Stimmen von Juden und Jüdinnen kommen zwar zu Wort, aber sie werden gecancelt. Oder ihnen wird gesagt, sie seien selbst-hassende Juden. Natürlich kann niemand für alle Juden und Jüdinnen sprechen, genauso wenig wie für alle Palästinenser.
Aber bei dieser Cancel-Culture frage ich mich – und ich rede nicht von den gewaltbereiten antisemitischen Menschen, die auch Straftaten begehen, sondern von denjenigen, die bereit sind zum Gespräch: Wenn wir alle canceln, die sich kritisch gegen Israelis oder gegen Palästinenser äußern, wer bleibt denn dann noch übrig? Die Radikalen? Die, deren Meinung wir ertragen können?
Wir vertreten keine Ideologie. Wir haben eine Botschaft. Uns geht es um Begegnung, Augenhöhe, Anerkennung, Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus. Wir versuchen der Debattenkultur, die teilweise sehr giftig ist, in beide Richtungen übrigens, entweder einen Spiegel vorzuhalten oder ihr entgegenzutreten. Aber mir ist bewusst, dass ich als Palästinensern mich nur mal "falsch“ äußern muss, aus der Perspektive der einen oder anderen Seite, und das war es dann.
Welches Klima für ein Miteinander, für Diskussionen wünscht Ihr Euch?
Hoffmann: Ich wünsche mir, dass wir einander erst einmal zuhören. In die deutsche Debattenkultur werden zum Beispiel internationale Diskurse gar nicht einbezogen. So spielt etwa die Frage, wie Menschenrechtsorganisationen die Situation bewerten oder welche Terminologien sie benutzen in der Debatte hierzulande kaum eine Rolle.
Wenn wir aufhören würden, alles mit roten Tüchern zu behängen, wäre dieses Terrain einfach nicht mehr so ein Minenfeld. Dann würden wir endlich mal anfangen, Tacheles darüber zu sprechen, worum es wirklich geht, was genau falsch läuft.
Am Anfang steht also erst einmal das Zuhören. Es ist wichtig, nicht direkt mit der Keule zu kommen, was dazu führt, dass mein Gegenüber nicht mehr sprechfähig oder eingeschüchtert ist.
Es passiert zum Beispiel häufig, dass sich keine Palästinenserinnen und Palästinenser für Talkshows finden lassen, weil sie einfach Angst davor haben, sich zu äußern. Wem nutzt das? Es nutzt zumindest nicht einer gesunden und respektvollen Debattenkultur, in der man einander zuhört und respektvoll Argumente austauscht, die zu gegenseitigem Verständnis führen.
Hassoun: Wir müssen den Schmerz der anderen anerkennen.
Das Interview führte Ceyda Nurtsch.
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