Schlechte Chancen für Waffenruhe

Ein Nachbarschaftskrieg, angezettelt von ultrarechten jüdischen Siedlern, die palästinensische Alteingesessene in Ost-Jerusalem auf die Straße setzen wollen, hat den Nahostkonflikt neu entfacht. Jetzt fallen wieder Bomben auf Gaza und Raketen auf Israel, ohne dass ein Ende abzusehen ist. Eine Analyse von Inge Günther aus Jerusalem

Von Inge Günther

Die Hamas habe endgültig eine „rote Linie“ überschritten, heißt es in israelischen Sicherheitskreisen. Auf ihre sieben gen Jerusalem lancierten Raketen – Auftakt für anhaltenden Beschuss aus Gaza, dem seit Montagabend die Grenzgemeinden im Negev ausgesetzt sind – könne es nur eine Antwort geben: den militärischen Flügel der palästinensischen Radikalislamisten ein für alle Mal zu zerschlagen. Nur wenig später lief die Militäroperation „Mauerwächter“ mit Luftangriffen auf Gaza an, durch die bereits in den ersten 24 Stunden 28 Palästinenser starben.   

Es ist ein vielstimmiger Chor, der sich in Israel dafür stark macht, mittels militärischer Übermacht für Abschreckung zu sorgen. Aber das war er auch im Sommer 2014, als eine Serie beidseitiger gewalttätiger Ereignisse in einen verheerenden Gaza-Krieg mündete. Der dauerte sieben Wochen, kostete rund 2300 palästinensische und 72 israelische Menschenleben und brachte eine enorme Verwüstung über den verriegelten Küstenstreifen. Die Waffenlager der Hamas wurden durch israelische Luftangriffe und während der folgenden Bodenoffensive zerstört, was ihre Issedin al-Kassam-Brigaden geschwächt zurückließ – aber eben nicht am Boden zerschlagen.

Der damals geschlossene Waffenstillstand brach immer wieder mal ein. Doch ein neuer Krieg ließ sich in aller Regel dank ägyptischer Vermittlung meist in letzter Minute vermeiden.

Um die sinkende Popularität der Hamas in Gaza nicht vollends zu verspielen, gab ihr Chef Jahia Sinwar dem Wiederaufbau Vorrang. Davon ausgehend zog es Israels Premier Benjamin Netanyahu vor, sich mit den Islamisten zu arrangieren, statt die vergleichsweise moderate Autonomieführung in Ramallah durch Verhandlungen aufzuwerten.

Netanyahu könnte ein Gaza-Krieg nützen

Doch diesmal ist die politische Ausgangslage weit komplexer. Netanyahu ist nur noch Premier einer geschäftsführenden Regierung, nachdem drei ultrarechte Partner partout keine Koalition wollten, die auf Tolerierung durch die arabisch-israelische Kleinpartei Ra’am von Mansour Abbas angewiesen wäre. Jetzt ist das Gespann von Yair Lapid und Naftali Bennett am Zug, eine alternative Regierung zu bilden.

Der zerstörte Hanadi-Turm in Gaza-Stadt. ( Mohamed Abed/AFP/Getty Images)
Netanjahus rote Linie: „Israels Sicherheitsbehörden, die bis zum Jerusalemer Raketenalarm eher uneins über das taktische Vorgehen wirkten, geben sich nun entschlossen, den militanten Islamisten die ganz harte Faust zu zeigen, um die Übermacht ihrer Streitkräfte zu beweisen“, analysiert Inge Günther.

Auch sie brauchen als Mehrheitsbeschaffer arabische Stimmen. Am Montag war eigentlich geplant, bei einem Treffen mit Mansour Abbas eine entsprechende Vereinbarung festzuzurren. Der vielfach Umworbene ließ den Termin angesichts der Eskalation in Gaza platzen, „bis sich die Lage wieder beruhigt“.

Abbas gilt zwar als Pragmatiker kommt aber selber, wie auch die Hamas, aus der Muslembruderschaft. Damit schwinden die Chancen eines Regierungswechsels in Israel, je länger sich die Kämpfe hinziehen. Insofern habe die Hamas „ironischerweise Netanjahu einen letzten Gefallen erwiesen“, so „Haaretz“-Kommentator Amos Harel.

Brandstifter der Hamas

Für Mohammed Deif, Kommandant der Hamas-Brigaden, dürften ganz andere Gründe ausschlaggebend sein, warum er jetzt eine so nicht erwartete Konfrontation mit Israel riskiert. Physisch ist er ein Krüppel, der bei israelischen Attentaten auf ihn beide Beine und einen Arm verloren hat. Aber sein Machtwille scheint ungebrochen. Nach den von der PLO-Führung in Ramallah abgesagten palästinensischen Parlamentswahlen scheint es Deif darum zu gehen, auf seine Weise den Einfluss der Hamas im Westjordanland und Ost-Jerusalem auszubauen.

Dort genießt Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas (85) einen denkbar schlechten Ruf im eigenen Volk. Seine Fatah, Mehrheitsfraktion in der PLO, ist in Flügelkämpfe verstrickt. Bei den Wahlen wollten gleich zwei konkurrierende Ableger gegen die alte Fatah-Garde unter Abbas antreten. Umso bessere Chancen hatte sich die Hamas ausgerechnet, mit ihrer Liste „Jerusalem ist unser Weg“ die meisten Wählerstimmen zu ergattern.

Bereits beim Aufflammen der Unruhen am Tempelberg, im Islam als Haram al-Sharif (Erhabenes Heiligtum) verehrt, war denn auch der Name Deif in aller Munde. Er befeuerte die Schlachtrufe palästinensischer Aktivisten bei den heftigen Zusammenstößen mit israelischen Polizeitrupps, die am Wochenende in Kampfmontur auf das Gelände der Al Aksa-Moschee vorgedrungen waren.

 

 

Eine neue Intifada?

Der eigentliche Auslöser der Proteste, die hunderte, teils schwer Verletzte zurückließ, hatte allerdings weder mit Hamas noch mit Al Aksa zu tun, sondern mit den Räumungsklagen der Siedler-nahen Organisation Nahalat Shimon gegen arabische Alteingesessene in dem Ost-Jerusalemer Viertel Scheich Jarrah. Dass Deif sein „Versprechen“ hielt, die Israelis müssten für ihre Provokationen „einen hohen Preis zahlen“, hat ihm unter jüngeren Palästinensern geradezu einen Heldenstatus beschert.

Das heißt noch nicht, dass eine dritte Intifada begonnen hat. Aber die Gefahr, tatsächlich in einen neuen, unkontrollierbaren Gaza-Krieg zu schlittern, ist groß. Und der geht, wie man aus Erfahrung weiß, immer und vor allem auf Kosten der unbeteiligten palästinensischen Bevölkerung in dem Elendsstreifen und auch auf die der israelischen Nachbarschaften jenseits des Grenzzauns.

Kein Ende der Gewalt in Sicht

Israels Sicherheitsbehörden jedenfalls, die bis zum Jerusalemer Raketenalarm eher uneins über das taktische Vorgehen wirkten, geben sich nun entschlossen, den militanten Islamisten die ganz harte Faust zu zeigen. Netanyahu und Verteidigungsminister Benny Gantz haben unisono betont, es gelte, die Terrorgruppen um Jahre zurückzuschlagen.

Und so stieß ein erstes, von dritter Seite übermitteltes Angebot der Hamas, an einer Rückkehr zur Waffenruhe interessiert zu sein, in Israel zunächst auf Ablehnung. Anders als in den letzten Eskalationsrunden spricht wenig dafür, dass die aktuelle schnell endet. Mohammed Deif könnte sich nicht nur zum eigenen Schaden politisch wie militärisch überschätzt haben.

Inge Günther

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