Tiefe Gräben
Im Machtkampf der Islamisten mit den Liberalen und säkularen Kräften geht es Schlag auf Schlag. Nach zwei Großdemonstrationen der Nicht-Islamisten zeigten am Samstag Muslimbrüder und Salafisten in Kairo ihre Stärke. Hunderttausende unterstützten Präsident Mohammed Mursi und sein heftig kritisiertes Ermächtigungsdekret. Die Muslimbrüder wurden nicht müde, die Größe der Anhängerschaft ihres Präsidenten zu betonen. Das Staatsfernsehen zeigte die Menschenmengen ausgiebig.
Doch viele der Teilnehmer kamen gar nicht aus Kairo, sondern waren mittels generalstabsmäßiger Planung aus vielen ägyptischen Provinzen herbeigebracht worden. Die Nummernschilder der unzähligen leeren parkenden Busse ließen daran keinen Zweifel. Am Ende der Protestkundgebung waren mit den Demonstranten auch die Busse verschwunden.
Verfassungreferendum für ein geteiltes Volk
Der 60-jährige Sherif Abd El-Wahab stammt aus Alexandria und brachte die Positionen seiner islamistischen Mitdemonstranten auf den Punkt: "Ich bin heute hier, um das Land und den gewählten Präsidenten zu unterstützen. Die Leute auf dem Tahrirplatz waren für die Auflösung des Parlaments und jetzt wollen sie die Verfassungsversammlung auflösen. Die wollen das Land zerstören."
Am vergangenen Samstagabend gab der Präsident in einer Rede bekannt, dass das Volk schon am 15. Dezember über den neuen Verfassungsentwurf abstimmen soll. Auf der Islamisten-Demonstration brach daraufhin Jubel los, auch Feuerwerkskörper wurden abgefeuert.
Auf dem wenige Kilometer entfernten Tahrirplatz hingegen hielten Demonstranten ihre Schuhe aus Verachtung für den Präsidenten und die Verfassung in die Höhe. Ägypten ist tief gespalten und die Chancen auf einen Kompromiss sind nach Mursis Ankündigung des Referendums nur noch gering.
Doppelzüngigkeit des Präsidenten
Mursis Rede verdeutlicht auch die zunehmenden Widersprüche zwischen seinen Aussagen und den tatsächlichen Entwicklungen. In der Rede forderte er zum Beispiel zum "nationalen Dialog" auf. Doch wie die Islamisten gegen den Widerstand fast aller säkularen Gruppen ihren Verfassungsentwurf durchgepeitscht haben, hat wenig mit Dialog zu tun.
An anderer Stelle betonte Mursi seine Wertschätzung für die Justiz, obwohl er diese mit seinem Dekret de facto ausgehebelt hatte. Schließlich unterstrich er, dass die Verfassung die Meinungs- und Glaubensfreiheit garantieren würde – obwohl beide in dem verabschiedeten Entwurf erheblich eingeschränkt werden.
Doch für seine Anhänger, wie dem etwa 35-jährigen Mostafa, ist die Verfassung ideal: "Für mich ist nur wichtig, dass das Land von der Scharia regiert wird. Ansonsten werde ich nicht zustimmen. Die Liberalen und Säkularen waren in der Verfassungsversammlung, aber sie traten zurück, noch bevor die Verfassung verabschiedet wurde. Sie wollen, dass das Land keine Verfassung hat."
Ob dieser Entwurf die neue Verfassung Ägyptens wird, wird also ein gespaltenes Volk in zwei Wochen in einem Referendum entscheiden müssen. Wie das ausgehen wird, ist offen. Die Muslimbrüder machen es den Ägyptern jedoch nicht leicht: eine Zustimmung zu dem Verfassungsentwurf stellen sie als Schritt zu mehr Stabilität und dem Ende von Mursis diktatorischen Vollmachten dar. Eine Ablehnung der Verfassung würde zur Direktwahl einer neuen Verfassungsversammlung führen. Diese müsste dann einen neuen Entwurf für ein Grundgesetz ausarbeiten.
Die Folge wäre eine monatelange Periode der Unsicherheit mit Mursi als allmächtigen Präsidenten. Für die revolutionsmüden Ägypter gibt es also keine gute Wahl. Hinzu kommt, dass viele einfache Bürger schlecht informiert sind. So auch Sherif Abd El-Wahab: "Die Verfassung ist ausgezeichnet, wirklich ausgezeichnet. Sie deckt alles ab, sogar die Minderheiten, weil sie ihnen alle Rechte gibt, vor allem den Christen."
Referendum ohne Richter?
Doch gerade die religiösen Minderheiten, wie etwa die schiitischen Muslime, würden mit dieser Verfassung erheblich diskriminiert werden. Und selbst die von Sherif erwähnten Christen, die in der Verfassung noch relativ gut gestellt sind, haben aus Protest all ihre Vertreter aus der Verfassungsversammlung abgezogen.
Wie ein Verfassungsreferendum ohne Unterstützung der Justiz jedoch überhaupt ablaufen soll, bleibt völlig unklar. Denn die meisten Richter sind aus Protest in den Streik getreten. Dieser Linie folgte nun auch das Verfassungsgericht. Das Gericht hätte am vergangenem Sonntag die Verfassungsversammlung möglicherweise auflösen können. Um das zu verhindern, zogen Islamisten vor das Gericht und blockierten den Zugang.
Daraufhin stellte die Kammer ihre Tätigkeit auf unbestimmte Zeit ein. In einer Stellungnahme sprach das Gericht von einem schwarzen Tag für Ägypten. Die Richter hätten in dieser von Hass und Hetze geladenen Atmosphäre nicht mehr arbeiten können, hieß es. Es wird also immer unwahrscheinlicher, dass die Richter Mursis Wunsch nachkommen und das Referendum überwachen werden.
Matthias Sailer
© Deutsche Welle 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de