Mursi kann nicht gegen sein Volk regieren
Es ist erst einige Monate her, dass Beobachter der politischen Lage in Ägypten in Mohammed Mursi einen "Präsidenten ohne Macht" sahen. Zu offensichtlich limitierte der Oberste Militärrat noch im Juni 2012 einhergehend mit Verfassungsgerichtsurteilen die exekutiven Machtkompetenzen des Präsidenten.
Mursi überraschte wenige Wochen nach seiner Vereidigung umso mehr, als er es in einem günstigen Augenblick schaffte, in einem hinter den Kulissen ausgehandelten machtpolitischen Arrangement das Militär aus dem formalen politischen Tagesgeschäft zu drängen und die beiden herausragenden Figuren der Übergangszeit, die hoch dekorierten Militärs Tantawi und Anan, in den Ruhestand zu schicken – eine Personalrochade, mit welcher sowohl Militärführung als auch Präsidentenpalast gut leben konnten.
Dieser Schulterschluss mit dem Militär verlieh dem Präsidenten zunehmend Selbstvertrauen, sodass er nun auch vermehrt offensiv gegen die Justiz und alte Seilschaften aus der Mubarak-Zeit vorging, was ihm in Umfragen große Zustimmungsraten einbrachte.
Offensichtlich glaubte er mit diesem Schritt gegen die alten Regime-Überreste auch genügend Unterstützung für seine jüngste Ausweitung der Machtkompetenzen generieren zu können. Mit Massenprotesten rechnete der Präsidentenpalast nicht.
Verlockung des Palastes
Mursi warb derweil seit vergangenem Juni medienwirksam für seine Politik, trotz allgemein steigendem Unmut was seine schleppende Umsetzung der zahlreichen Wahlversprechen, wie im Bereich der Energieversorgung und der Müllentsorgung, betraf. Auf internationaler Ebene konnte der Präsident ungleich größere Erfolge einfahren.
Vor allem das Vermittlungsbemühen von Ägypten, das letztlich zu einem erfolgreich ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen zwischen der Hamas und Israel führte, ist aus Sicht amerikanischer und europäischer Diplomaten vor allem dem Verhandlungsgeschick und diplomatischen Kontakten der ägyptischen Seite zu verdanken gewesen.
Und just in dem Augenblick dieses internationalen diplomatischen Erfolges überraschte Mursi nun mit einer Verfassungserklärung, mit welcher er eine Ausweitung seiner Machtkompetenzen erreichte, die am Ende alle drei Gewalten im Präsidentenpalast zusammenführen würde: Zum Schutze der Revolution – so die offizielle Verlautbarung – seien seine Dekrete bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung juristisch nicht anfechtbar.
Unter anderem setzte Mursi auch den von ihm ungeliebten Generalstaatsanwalt Abdel-Meguid Mahmoud ab, nachdem dieser sich zuletzt weigerte, im Gegenzug zum Verzicht auf sein Amt, ägyptischer Botschafter im Vatikan zu werden. Die öffentliche Reaktion kam prompt und folgte entlang säkular-religiöser und ebenso intra-religiöser Konfliktlinien inmitten einer weiterhin schwächelnden Wirtschaft und schlechter sozioökonomischen Daten.
Die Angst vor einem "neuen Pharao" mobilisierte Hunderttausende. Sympathisanten der Muslimbruderschaft verzichteten zunächst auf eine unmittelbare Machtprobe auf der Straße. Die Bilder vom Tahrir-Platz erinnerten zwischenzeitlich an jene Bilder des 18-tägigen Protests gegen den "alten Pharao", Mubarak. Dennoch ist dieser Befund irreführend.
Mursi ein neuer Mubarak?
Präsident Mursi ist unabhängig der aktuellen Debatte und diffuser Rücktrittsforderungen die derzeit einzig demokratisch legitimierte Gewalt bei einer gleichzeitig zerstrittenen Opposition, die sich ihrer selbstverliebten Führungspersönlichkeiten erwehren muss. Alleine das "nein" zu Mursis Dekreten eint und mobilisiert ein höchst heterogenes Spektrum an Akteuren, alles weitere bleibt jenseits eines greifbaren Konsenses.
Die Justiz, welche in Teilen aus Protest gegen Mursis Dekrete in einen Streik getreten ist, nun als möglichen Retter der staatlichen Ordnung und Verfechter einer demokratischen Ordnung zu überhöhen, ist ebenso wirklichkeitsfremd ob der fehlenden Homogenität der Richterschaft. Schon unter Mubarak gab es tiefe Trennlinien zwischen regimeloyalen und regimekritischen Richtern, welche durch Ägyptens mehrdimensionale Gerichtsbarkeit noch verstärkt wurden. Schon zu dieser Zeit verfügten auch die Islamisten qua starker Präsenz in den einschlägigen Berufsverbänden über einen starken Einfluss in der Richterschaft.
Auch die internationale Großwetterlage scheint derzeit günstig für Mursi zu sein. Er profitiert nachhaltig von seiner Rolle als neuer verlässlicher Verhandlungspartner im arabisch-israelischen Konflikt. Und das Militär als "Veto-Player" braucht Mursi momentan wohl sowieso nicht zu fürchten, sofern die Auseinandersetzung mit den Protestierenden nicht weiter eskaliert.
Mursis jüngster Schachzug aber, die Verabschiedung der fast ausschließlich von religiösen Kräften geschriebenen Verfassung zu beschleunigen und im Eilverfahren in einem Referendum dem Volk vorzulegen, wird hingegen nicht zu dieser nötigen Deeskalation beitragen.
Autoritäre oder demokratische Transformation?
So zeigt der derzeitige Konflikt, dass der Weg zu einer demokratischen politischen Ordnung eine lange und unsichere Reise ist und ein demokratischer Transformationsprozess eine Richtungsvielfalt mit sich bringt, die zwischen autoritärer Transformation und demokratischer Transformation oszilliert. In welche Richtung das Land unter Mursi steuert, ist nicht absehbar. Mursi und sein wachsender Beraterstab wissen es offenkundig selbst noch nicht.
Die Verlockungen des Pharaos haben dennoch schon ihre Wirkung entfaltet, stoßen aber auf hoch politisierte Gesellschaftsgruppen, welche in Würde, Freiheit und Gerechtigkeit leben wollen und diesem Willen in virtuellen und realen Räumen nachhaltig Ausdruck verleihen. An diesen Gruppen wird kein Präsident in naher Zukunft vorbeiregieren können!
Thomas Demmelhuber
© Qantara.de 2012
Professor Dr. Thomas Demmelhuber ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft an der Stiftung Universität Hildesheim.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de