Die europäischen Wurzeln der Türkei
Über "Türken-Witze" kann man oft nicht lachen. Sie sind schlicht dumm oder haben einen rassistischen Hintergrund. Es gibt aber auch Witze mit einer gewissen Aussagekraft.
Der folgende bringt die Traumata der Europäer im Zusammenhang mit dem Europa-Kurs der Türkei zum Ausdruck: "Worin besteht der Unterschied zwischen 1683 und heute? Die Antwort: 1683 standen die Türken vor Wien, heute stehen sie in Aldi."
Türkische Kultur verwurzelt
Was im 17. Jahrhundert gelungen ist, nämlich die Osmanischen Heere zum Rückzug zu zwingen und die Belagerung Wiens zu beenden, wünscht sich so mancher Stammtisch wieder.
Wenn im Gespräch ein Satz damit beginnt, dass einer sagt, er habe ja "grundsätzlich nichts gegen die Türken", und dann mit dem Wort "aber ..." fortfährt, dann kann mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden, dass das heutige Straßenbild in manchen Bezirken von deutschen Städten so gar nicht nach seinem Geschmack ist.
Es stimmt, dass es in Deutschland inzwischen rund 2,5 Millionen Menschen mit kulturellen und religiösen Wurzeln in der Türkei gibt. Es stimmt aber auch, dass die Zahl der Nachfahren der ersten Einwanderer aus Anatolien vor fünf Jahrzehnten mit Geburtsorten zwischen Konstanz und Flensburg, zwischen Eisenhüttenstadt und Aachen immer größer wird. Damit wird die Zahl der Deutschen mit türkischer Abstammung immer größer, während der klassische "Gast"-Arbeiter langsam ausstirbt.
"Passt" die Türkei nach Europa?
Warum wollen die Türken in die EU? Das sind doch Moslems und Angehörige einer ganz anderen Kultur, die überhaupt nicht zu Europa passt. Das Osmanische Imperium wollte auch immer nach Europa, warum eigentlich?
"Wer Angst vor Wölfen hat, sollte kein Schafshirt werden", sagt der anatolische Volksmund. Wer Angst vor anderen Kulturen und Religionen hat, hätte nicht Menschen aus fremden Regionen wahllos anwerben dürfen.
Wer aber heute den Anspruch erhebt, eine Führungsrolle in der Weltpolitik zu übernehmen, muss zum Dialog mit anderen Kulturen und Religionen fähig sein. Finnen und Portugiesen trennen auch Welten, Griechen und Iren auch. Türken aber haben viele Gemeinsamkeiten mit den EU-Staaten.
Die Gemeinsamkeit der Türken mit den Iren und Finnen, mit den Portugiesen und Griechen ist der Wunsch nach der Teilung von universalen Werten wie Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte und wirtschaftliche Entwicklung als Basis für inneren und äußeren Frieden.
Diese Bereitschaft zur Übernahme der europäischen Werte und Normen ist der Beweis dafür, dass die Türken ein Motto ihres Republikgründers verinnerlicht haben: "Die Türkei muss auf das Niveau der zeitgenössischen Zivilisationen gehoben werden."
Spuren türkischer Kultur in europäischer Geschichte
Um dieses Ziel zu erreichen, nämlich europäisch zu sein, wurde das Kalifat abgeschafft, das lateinische Alphabet eingeführt und Frauen mit Hilfe einer für damalige Verhältnisse modernen Rechtssprechung mit weitreichenden Rechten und Pflichten versehen.
Doch schon lange vor dem Assoziationsabkommen von 1963 hatten die Türken sich stets mit Europa beschäftigt. 1492 wurden die Juden Spaniens, deren Nachfahren heute in der Türkei zu respektierten Mitgliedern der Gesellschaft gehören, vor der Inquisition gerettet.
Der Drei-Viertel-Takt des Wiener Walzers verlieh dem osmanischen Musikgeschmack ganz neue Dimensionen der Vielfalt. Europäische Sprachen wurden in der Türkei gelehrt und von den elitären Schichten beherrscht.
Für die heutige Türkei sind ihre weitere Heranführung an die EU und damit der Beginn von Beitrittsverhandlungen die Krönung eines noch während der Blütezeit des Osmanischen Reiches begonnenen intensiven Prozesses in Richtung Moderne.
Diesem Ziel haben auch die vielen jüdischen und christlichen Europäer gedient, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Zuflucht in der Türkei gefunden hatten, um dann nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland zurückzukehren und beim Wiederaufbau mit anzupacken.
Sie wussten, dass die Türkei eine Republik ist, die in ihren heute anerkannten Grenzen zehn Jahre vor der Machtergreifung Hitlers und 15 Jahre vor der "Reichskristallnacht" mit dem zeitlich fast parallelen Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ausgerufen worden war.
Sonnenseiten überwiegen
Wer heute nach Argumenten gegen die Türkei greift, zeigt nur die Schattenseiten eines Landes, das in seinem Gründungsjahr dem Europarat beigetreten und 1952 zum NATO-Mitglied geworden war, um die freiheitlich-demokratischen Werte Europas zu festigen und zu verteidigen.
Übersehen wird aber dabei, dass die Sonnenseiten der türkischen Geschichte bei weitem die Schattenseiten überwiegen. Bei allen Abstrichen haben die Türken den Beweis erbracht, dass der Islam als Volksreligion und eine Demokratie europäischer Prägung auf der Basis des Laizismus sich gegenseitig nicht ausschließen müssen.
Der Beitritt der Türkei ist zeitlich noch sehr weit entfernt. Die Ängste der Gegenwart vor der Türkei und ihrem Beitritt zur EU mögen noch so nachvollziehbar sein, sie eignen sich aber nicht als ein Plädoyer für den Anspruch europäischer Länder, sich gemeinsam um eine bessere Welt auf der Basis von Toleranz mit daran anknüpfender Anerkennung von anderen Kulturen und Religionen zu bemühen.
Patriotismus bedeutet, sich um das Wohl des eigenen Landes zu bemühen, ohne andere Länder zu verachten. Der Nationalismus aber fordert neue Mauern und neue "eiserne Vorhänge" in Europa, die es zu verhindern gilt.
© DEUTSCHE WELLLE/DW-WORLD.DE 2004
Baha Güngör ist Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen Welle und Autor des Buches "Die Angst der Deutschen vor den Türken und ihrem Beitritt zur EU".
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