Neue Allianzen in der Migrationsdiplomatie
Im Ringen um eine gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik spielt Margaritis Schinas eine Schlüsselrolle. In einem ganzseitigen Interview der führenden Athener Tageszeitung "Kathimerini“ verbreitet der Vizepräsident der EU-Kommission Zuversicht: "Wir waren noch nie so nah an einer Lösung wie jetzt“, sagt der Brüsseler Spitzenpolitiker.
Seinen Optimismus begründet der Grieche in Europas Diensten mit dem Blick auf den Kalender. Nach Spanien übernehmen im nächsten Halbjahr die Belgier die EU- Ratspräsidentschaft; und diese seien – so Margaritis Schinas – "Weltmeister des Kompromisses“.
Derweilen arbeitet der Kommissions-Vize in zweiter Reihe an dem Projekt, die Zahl der Flüchtenden an Europas Außengrenzen zu begrenzen. Er komme gerade aus Westafrika zurück, erzählt Schinas in dem Zeitungsinterview.
In Guinea, der Elfenbeinküste und Senegal, allesamt Länder, in denen für viele Menschen die gefährliche Reise nach Europa beginnt, habe er gegenüber den Gastgebern die zentrale Botschaft der europäischen Migrationsdiplomatie kommuniziert: "Je mehr Sie in der Migrationsfrage zusammenarbeiten, desto mehr werden Sie von Europa gewinnen. Anderenfalls wird unsere Hilfe angepasst.“
Geld für Grenzkontrollen – so oder so ähnlich könnte man die Nachbarschaftspolitik der EU auf den Punkt bringen. Der aktuelle Fokus liegt auf Tunesien; das Flüchtlingsthema überschattet aber längst auch Europas Beziehungen zu Libyen und Ägypten.
Ein wenig aus dem Blickwinkel geraten ist das östliche Mittelmeer – und das Schlüsselland Türkei. Die Ruhe, wenn denn davon die Rede sein kann, ist trügerisch. Auf den griechischen Ägäis-Inseln kommen wieder deutlich mehr Flüchtende an. In Athen wächst die Nervosität.
Ein Hauptschauplatz der Migrationspolitik bleibt die internationale Diplomatie. Im maltesischen Valetta trafen jetzt die Regierungschefs der MED9, der EU-Mitgliedsländer mit Mittelmeerzugang, zusammen.
Die Migration stand dabei einmal mehr im Mittelpunkt: Die EU müsse "die Bedingungen bestimmen, wer hineingelassen wird und wer nicht“, brachte der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis eine Schlussfolgerung der EU-Südländer auf den Punkt. "Gegenwärtig sind es die Schlepper, die bestimmen, wer Zugang zur Europäischen Union erhält und das muss sich ändern.“
Athens Migrationsdiplomatie setzt auf die Zusammenarbeit mit möglichst gleichgesinnten Regierungen. Einen zentralen Stellenwert nimmt das Nachbarland Türkei ein. Von dort erreicht die große Mehrheit der Schutzsuchenden das Land. Neuerdings kommt auch der Bundesrepublik Deutschland eine Schlüsselrolle zu.
In diesen Tagen erkennen wir eine in dieser Form bislang unbekannte Zusammenarbeit zwischen Athen, Berlin und Ankara in der Flüchtlingspolitik. Schenkt man den offiziellen Verlautbarungen Glauben, so verbindet die Regierungen Griechenlands, der Türkei und Deutschlands das Ziel, die Flüchtlingsströme im Ägäischen Meer und am Grenzfluss Evros in den Griff zu bekommen.
"Die Türkei hat sich zum wichtigsten internationalen Drehkreuz für irreguläre Migration weltweit entwickelt“, sagt der neue griechische Minister für Migration Dimitris Kairidis. Für seine Aussagen hat der Athener Politiker die auflagenstarke deutsche Boulevardzeitung BILD gewählt.
Dort erklärt der Minister einem deutschen Millionenpublikum die Methoden der Migranten: "Mit den günstigen Tickets von Turkish Airlines ist es für Drittstaatenangehörige sehr einfach, ohne Visum … in die Türkei zu fliegen. Vom Flughafen Istanbul aus bewegen sie sich entweder auf dem Landweg oder dem Seeweg über die griechische Grenze nach Europa.“
Das Ziel der großen Mehrheit dieser Menschen sei unverändert Deutschland, ergänzt der Grieche. Die sogenannte Sekundärmigration erkläre das besondere Interesse Berlins an einer Vereinbarung mit der Türkei – und mit dem wichtigsten Transitland Griechenland.
Für Athen ist Berlin vor allem wegen seiner besonderen Beziehungen zu Ankara der wichtigste Verbündete in der Migrationsfrage: "Wir alle wissen, dass Deutschland der größte Akteur in Europa ist und enge und vielfältige Beziehungen zur Türkei bestehen. Wir wissen auch, dass die Türken in Europa am liebsten mit Deutschland sprechen und eher auf Berlin hören als auf andere Hauptstädte.“
Das ist die eine Seite der zielgebundenen Allianz, in der – aus griechischer Sicht – Berlin der geeignete Hebel ist, um Ankara zum Einlenken zu bewegen.
Athen und Berlin verbindet derweil das Ziel, das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei von 2016 zu erneuern. Es wäre naiv anzunehmen, dass Präsident Erdogan ohne neue Milliarden-Transfers aus Brüssel und ohne politische Konzessionen der Europäer in der Migrationsfrage Entgegenkommen zeigt. Wie 2016 wird Erdogan von der EU nicht nur viel Geld verlangen, sondern auch politische Zusagen bei den Visa-Erleichterungen für türkische Bürger in der EU und die Modernisierung der Zollunion einfordern.
Derweilen leisten Athen und Ankara auf bilateraler Ebene bereits wichtige Vorarbeiten. Dabei profitieren sie von dem seit einigen Monaten deutlich verbesserten Klima in den bilateralen Beziehungen. Lokale Medien berichten, dass der griechische und der türkische Migrationsminister via WhatsApp kommunizieren mit dem Ziel, irreguläre Grenzüberquerungen zu unterbinden.
Bei ihrem Treffen am Rande der UNO-Vollversammlung in New York vor einigen Wochen haben Ministerpräsident Mitsotakis und Präsident Erdogan vereinbart, nach einvernehmlichen Lösungen in der Migrationsfrage zu suchen. Das Thema soll auf der Tagesordnung stehen, wenn die beiden Regierungschefs Anfang Dezember das nächste Mal in Thessaloniki zusammenkommen.
Zuvor werden Athen und Berlin die nächsten - gemeinsamen - Schritte koordinieren – und die Abstimmung mit der Europäischen Kommission in Brüssel suchen. Dieser Prozess ist in vollem Gange. Eine Koordination zwischen Deutschland und Griechenland auf höchster Ebene steht für Mitte November an, wenn Kyriakos Mitsotakis im Rahmen seines Antrittsbesuchs in Berlin mit Bundeskanzler Olaf Scholz zusammentrifft.
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