Reformstillstand am Bosporus
Es waren ungewöhnlich scharfe Töne, die der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan kürzlich gegenüber der Europäischen Union anschlug: Solange die wirtschaftliche Isolation gegenüber den türkischen Zyprern im Norden der Insel aufrechterhalten werde, könne man die Häfen für Schiffe aus Zypern öffnen, so Erdogan.
"Wenn die Verhandlungen mit der Europäischen Union zum Stillstand kommen, dann kommen sie eben zum Stehen", erklärte er vor der Istanbuler Industriekammer. Es war die europakritischste Äußerung seit dem Machtantritt der konservativ-islamischen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) unter Tayyip Erdogan vor dreieinhalb Jahren. Und mehrere Kabinettsmitglieder äußerten sich ganz ähnlich wie der Ministerpräsident.
Stockender Reformprozess
Die Türkei an die EU heranzuführen – das war das erklärte Ziel der AKP. Mit dem Thema Europa punktete Erdogan in der innenpolitischen Debatte in der Türkei. Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der EU wurde als großer Erfolg der Regierung verkündet.
Doch seit geraumer Zeit ist der Reformprozess am Bosporus ins Stocken geraten. Führende türkische Wirtschaftsverbände attestieren der Regierung schlechte Noten. Unter nationalistischer Kritik hat sich die AKP inzwischen nach rechts bewegt und glaubt durch nationalistische Propaganda Anhänger zu gewinnen.
Gegenwärtig beherrscht die Wahl des Staatspräsidenten im kommenden Frühjahr die innenpolitische Diskussion in der Türkei. Tayyip Erdogan würde wohl gerne dieses Amt bekleiden, doch eine mächtige Front, einschließlich der Militärs, will dies verhindern.
Die Wahl Erdogans zum Staatspräsidenten würde wohl die Kluft zwischen säkularen Türken und Anhängern Erdogans vertiefen und das Land spalten. Erdogan glaubt, vor den Wahlen mit einer nationalen Rhetorik sich gut zu präsentieren.
Fehlender Dialog mit den Kurden
Noch ein Jahr zuvor herrschte der Glaube, dass sich in der Kurdenfrage etwas bewegen würde. Heute will die AKP-Regierung am liebsten das Problem ignorieren und wegschauen.
Die Freiheit, auf Kurdisch zu publizieren und kurdische Fernsehsender zu betreiben, stellt noch keine Lösung des Konfliktes dar. Bis heute kommt es immer wieder zu Anschlägen der radikalen PKK. Schritte der Regierung, die eine umfassende politische Lösung des Problems versprechen, bleiben aus.
So weigert sich die Regierung Erdogan noch immer, mit den gewählten Bürgermeistern in den kurdischen Regionen in einen Dialog zu treten, um dem Blutvergießen ein Ende zu bereiten. An einer weitergehenden Demokratisierung des Landes scheint die AKP-Regierung kaum interessiert zu sein.
Um die Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu erfüllen, wurden zahlreiche Gesetzespakete vom Parlament verabschiedet. Doch heute herrscht Stillstand bei den Reformen.
Blockierte Friedenslösung in Zypernfrage
Es ist kein Zufall, dass die Regierung Erdogan den Nationalisten in der Zypern-Frage entgegenkommt. So kann dieser mit breiter Zustimmung rechnen, wenn er an die EU gewandt erklärt: "Ihr wolltet Unterstützung für den Annan-Plan? Wir unterstützen den Annan-Plan. Auch Nordzypern hat sein 'Ja' dazu abgegeben. Südzypern hat dagegen 'Nein' gesagt. Ihr belohnt also die Neinsager und bestraft diejenigen, die ihr okay zum Annan-Plan gegeben haben."
Im Konflikt zwischen der EU und der Türkei steht Zypern ganz oben auf der Agenda. Der Glaube, dass die Aufnahme Zyperns in die EU und die Annäherung der Türkei an Europa gleichsam zu einer Friedenslösung auf der seit 1974 gespaltenen Insel führe, erwies sich als Irrtum. Zypern ist faktisch in einen griechischen Südteil und einen türkischen Nordteil gespalten.
Doch die international anerkannten, griechischen Zyprer beanspruchen für sich, Zypern als Ganzes zu repräsentieren. Die Mitgliedschaft in der EU erleichtert es dem nationalistischen Präsidenten Papadopoulos, eine Friedenslösung, die auch den türkischen Zyprern entgegenkommen würde, zu blockieren.
Erst jüngst erklärte der UN-Generalsekretär Kofi Annan, dass die Aufnahme Zyperns in die EU eine Friedenslösung auf der Insel erschwert habe. Im Jahr 2004 hatten die griechischen Zyprer in einem Referendum den UN-Friedensplan abgelehnt.
Bis Ende des Jahres hat sich die Türkei gegenüber der EU verpflichtet, ein Zusatzprotokoll zu unterzeichnen, um türkische Häfen und Flughäfen für Schiffe und Flugzeuge aus Zypern zu öffnen. Auf der anderen Seite wurden europäische Versprechungen, die Situation der türkischen Zyprer zu verbessern, nicht eingehalten, weil Zypern entsprechende Entscheidungen in der EU blockierte.
Beitritt auf dem Prüfstand
Wird bis zum EU Gipfel Ende des Jahres keine Lösung gefunden, könnten die Beitrittsgespräche ausgesetzt werden. Für europäische Politiker, die ohnehin skeptisch gegenüber einer türkischen Mitgliedschaft in der EU sind, böte Zypern den Anlass für einen Bruch in den europäisch-türkischen Beziehungen.
"Für mich steht fest, dass die Türkei die Verpflichtungen, die sie eingegangen ist, auch erfüllen muss, und Gütern aus Zypern Zugang zu ihren Häfen erteilen muss", erklärte der französische Präsident Chirac nach dem letzten EU-Gipfel in Brüssel. Der österreichische Ministerpräsident Wolfgang Schüssel sprach nach der Erdogan-Rede von einem ernsten Problem.
Will die Regierung Erdogan den politisch riskanten Bruch mit der EU riskieren, käme ihr als Anlass die Zypern-Frage gelegen. Angesichts eines erstarkenden Nationalismus und der Abnahme der EU-Begeisterung in der Bevölkerung verspricht eine Politik der Härte innenpolitischen Zuspruch.
Vor den Präsidentschaftswahlen im kommenden Frühjahr und den Parlamentswahlen im Winter nächsten Jahres will Erdogan sich als nationalistischer Hardliner profilieren.
Ömer Erzeren
© Qantara.de 2006
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