Pro und Kontra EU-Beitritt der Türkei

Udo Steinbach vom Orient-Instituts in Hamburg befürwortet EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler schließt einen Beitritt der Türkei zur EU auch langfristig kategorisch aus.

Von Steffen Leidel

Steinbach fordert die EU-Mitgliedstaaten auf, auf dem Brüsseler Gipfeltreffen für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu stimmen. "Die Gespräche sollten irgendwann im Jahre 2005 beginnen", sagt Steinbach. Gleichzeitig müsse aber noch einmal deutlich gemacht werden, dass die Verhandlungen durchaus unterbrochen und auf Eis gelegt werden können, wenn sich zeige, dass die Türkei nicht in der Lage sein wird, die Mindeststandards der "Kopenhagener Kriterien" zu erfüllen.

Hans-Ulrich Wehler, Foto: DW-WORLD.DE

​​Wehler wünscht sich dagegen, dass sich auf dem Gipfel keine einheitliche Meinung herstellen lässt. "Ich hoffe, dass ein paar Regierungschefs den Mumm haben, zu sagen, die Türkei ist ein nicht-europäischer, kleinasiatischer muslimischer Großstaat. Den wollen wir nicht als künftigen Führungsstaat in der EU haben, als denjenigen der die gesamte Nahostpolitik der EU definiert, der in Straßburg wegen der großen Bevölkerungszahl die größte Fraktion stellt, die ja wegen der religiösen Bindung nicht einfach auf Christdemokraten und Sozialdemokraten aufgeteilt werden kann." Die Chancen für ein Nein sind laut Wehler jedoch nicht sehr groß.

Steinbach zeigt Verständnis für die Verunsicherung in der deutschen und europäischen Bevölkerung bezüglich der Türkeifrage: "Aber es geht im Moment nur um den Beginn von Verhandlungen, noch nicht um den endgültigen Beitritt." Und hier sei nun ein klares Ja der Regierungschefs gefragt. "In dieser wichtigen Entscheidung mit Blick auf die Türkei sollte man für den Augenblick die öffentliche Meinung außen vor lassen und es sollten die politischen Führer in der EU sein, die ein Votum fällen."

Wehler übt dagegen scharfe Kritik an der Haltung von Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem französischen Staatschef Jacques Chirac. Sie gehören nach Wehlers Meinung zum "schwächsten Geschlecht an Europapolitikern, das es im letzten halben Jahrhundert gegeben hat". Schröder und Chirac ignorierten den Willen der europäischen Bürger. In Deutschland sprächen sich konstant 66 Prozent und in Frankreich 68 Prozent der Bevölkerung bei Umfragen gegen den Beitritt aus. "Da tut sich eine bedenkliche Kluft auf im Sinne eines beträchtlichen Demokratiedefizits, wenn leitende Politiker sich in diesem Stil über die Mehrheitsmeinung in ihren Ländern hinwegsetzen", glaubt Wehler.

Laut Steinbach gab es in den vergangenen fünf Jahren "einen rasanten Prozess der Annäherung der Türkei an die europäischen Standards". "Ich bin beeindruckt von den Fortschritten. Ich glaube es ist jetzt Zeit, die Nagelprobe zu machen." Als Fortschritt bewertet Steinbach unter anderem die sieben Reformpakete, die im türkischen Parlament seit 2002 verabschiedet worden sind. "Sie betreffen fast alle Problembereiche, von den Minderheitenrechten, über die Todesstrafe, die Folter bis hin zu wirtschaftspolitischen Maßnahmen sowie der Trennung von Staat und Politik." Außerdem lobt Steinbach die Strafrechtsreform und die Empfehlung der türkischen Regierung an die Zypern-türkische Bevölkerung, sich für eine Wiedervereinigung der Insel auszusprechen.

Wehler sieht die Fortschritte skeptisch: "Das sind zunächst nur papierene Gesetze auf der aller obersten Ebene der Legislative. Damit ist noch nichts gesagt, was davon in der Bürokratie, in der Justiz, in der Polizei oder im Gerichtswesen im Alltag ankommt."

Gewisse Einigkeit herrscht bei Steinbach und Wehler, was die Frage der ungelösten Problem in der Türkei angeht. Dabei führen sie Menschenrechtsverletzungen, die nach wie vor gängige Folterpraxis sowie die mangelnde Gleichberechtigung der Frau an. Beide kritisieren, dass auch die Kurdenfrage noch nicht nachhaltig geklärt sei. "Deswegen ist die Türkei ja auch keineswegs reif am heutigen Tage für einen EU-Beitritt. Es sind wichtige Schritte unternommen worden, es müssen weitere Schritte unternommen werden", betont Steinbach. Besonders kritisch bewerten die Experten die Situation der nicht-islamischen Minderheiten. Wehler sieht die christlichen Kirchen in der Türkei unter einem "vehementen Islamisierungdruck". "Die dürfen noch immer keinen Immobilienbesitz und keine eigenen Geistliche haben, geschweige denn ausbilden." In diesem Punkt sei die Regierung bisher völlig unbeweglich geblieben.

Laut Steinbach vollzieht sich in der Türkei eine Hinwendung zum Islam: "Auf der einen Seite tritt der Islam wieder behutsam ins gesellschaftliche Zentrum und auf der anderen Seite gibt es eine weitere Annäherung an Europa." Dass es in der Türkei Radikale gibt, sei zwar nicht zu leugnen. "Aber die jetzige türkische Regierung wollen wir alles andere als radikalislamisch nennen. Das ist eine Form von Islam, die in ein säkulares, laizistisches System passt. Dieses säkulare System passt noch nach Europa", so Steinbach. "Meine türkischen Freunde sind alle skeptisch, was Herrn Erdogan betrifft. Aber er hat in der Diskussion um die Strafrechtsreform, um die Strafbarkeit des Ehebruchs eine pragmatische Linie am Ende verfolgt, die darauf hinauslief, das Strafgesetzbuch zu europäisieren."

Problematisch sieht dagegen Wehler die "Reislamisierung" unter Erdogan. Zugleich kritisiert er den Fortschrittsbericht der EU-Kommission als "schlampig". "Die Reislamisierung unter Erdogan wird nirgends erwähnt." So seien 60.000 Vorbeter mit staatlicher Alimentierung neu eingestellt worden. Unerwähnt bleibe beispielsweise auch, dass es keine Reformgesetze dagegen gebe, dass jede zweite Frau gegen ihren Willen verheiratet wird oder dass jeder fünfte Mann mehrere Frauen habe.

Steffen Leidel

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004

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