Erdogans hürdenreicher Weg in die Europäische Union
Die türkische Führung muss während der kommenden Verhandlungen beweisen, dass sie in der Lage ist, die vielen Hindernisse für den EU-Beitritt zu beseitigen: Angefangen bei der Zypern- und der Armenierfrage, bis hin zur Garantie demokratischer Grundrechte. Ömer Erzeren fasst die Knackpunkte zusammen.
Als die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vor fast drei Jahren die Parlamentswahlen gewann, war ein wichtiges Wahlversprechen, mit aller Kraft dafür einzutreten, dass die Türkei Mitglied der EU werde. Viele Kommentatoren im Ausland verwunderte es, dass eine solche Programmatik einer konservativen Partei, deren Parteispitze sich aus gläubigen Muslimen zusammensetzt, entsprang.
Fast drei Jahre später kann die Partei zu Recht behaupten, zumindest an diesem Punkt ihr Wahlversprechen eingehalten zu haben. Noch nie war die Türkei Europa so nah wie heute. Am 3. Oktober sollen die Beitrittsverhandlungen beginnen.
Die Verfassungs- und Gesetzesänderungen unter der Regierung Tayyip Erdogan, die zur Demokratisierung des Landes beigetragen haben, bildeten dafür die Voraussetzung dafür. Doch je näher der Termin rückte, desto erbitterter wurden die Widerstände aus den Reihen der EU wie auch aus den Reihen der türkischen EU-Gegner.
Insbesondere in Frankreich und Österreich gibt es starke Kräfte, die einer EU-Mitgliedschaft der Türkei ablehnend gegenüberstehen. Auch in Deutschland versuchten CDU/CSU gegen den Beginn von Beitrittsverhandlungen mobil zu machen und propagierten stattdessen das Modell einer "privilegierten Partnerschaft".
Konfliktpunkt Zypern
Hinzu kommen die gewaltigen Spannungen zwischen der Türkei und der Republik Zypern, die bereits EU-Mitglied ist. Die Türkei unterzeichnete ein Zusatzprotokoll, das die bestehende Zollunion mit der EU auf die zehn neuen Mitgliedstaaten (einschließlich Zypern) ausdehnt – eine Voraussetzung zum Beginn der Beitrittsverhandlungen.
In einer einseitigen Deklaration Ankaras wurde allerdings betont, dass damit keine völkerrechtliche Anerkennung Zyperns verbunden sei. In einer mühselig zustande gekommenen Gegenerklärung der EU wird die Türkei aufgefordert, ihre See- und Flughäfen für Schiffe und Flugzeuge aus Zypern zu öffnen. Die Anerkennung Zyperns sei ein "notwendiger Bestandteil des Beitrittsprozesses" heißt es weiter.
Die Insel ist seit dem Einmarsch türkischer Truppen 1974 in einen griechischen Süden und einen türkischen Norden geteilt. Dem türkischen Einmarsch war ein faschistischer Putsch vorangegangen, der die Vereinigung der Insel mit Griechenland zum Ziel hatte. Heute bewachen Blauhelme der EU die künstliche Grenze.
Jahrzehnte herrschte politischer Stillstand. Auf Drängen Griechenlands, das drohte, den Erweiterungsprozess mit den osteuropäischen Ländern zu blockieren, wurde Zypern, obwohl faktisch ein geteiltes Land, der Weg in die EU geebnet.
Verkehrte Welt
Die jahrzehntelange, kompromisslose Ablehnung der UN-Friedensbemühungen seitens der türkischen Zyprioten gab letztendlich den Ausschlag dafür, dass die Republik Zypern, die nur die Inselgriechen im Süden repräsentiert, aber den Alleinvertretungsanspruch der gesamten Insel beansprucht, Mitglied der EU wurde.
Seit fast zwei Jahren herrscht auf der Insel eine verkehrte Welt. Während die türkischen Zyprioten im Norden eine neue sozialdemokratisch-reformerische, politische Führung wählten, die einen Kompromiss zur Überwindung der Teilung anstrebt, und mit überwältigender Mehrheit für den UN-Friedensplan votierten, mobilisierte die griechisch-zypriotische Führung mit nationalistischen Parolen gegen den UN-Friedensplan von Kofi Annan.
Wenige Wochen vor der EU-Mitgliedschaft lehnten die griechischen Zyprioten in einem Referendum den UN-Friedensplan ab. Vor der Abstimmung hatte sich der griechisch-zypriotische Präsident bei der EU-Führung verbürgt, für eine politische Lösung einzutreten. Das Gegenteil war der Fall. Er fühle sich "betrogen", meinte der damals für Erweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen.
Als Erblast der Vergangenheit wird der Zypern-Konflikt die Beitrittsverhandlungen begleiten, zumal die Republik Zypern EU-Mitglied ist. Ohne eine politische Lösung ist eine türkische Mitgliedschaft in der EU undenkbar.
Verschwörung der innenpolitischen Gegner?
Auf der anderen Seite hat die türkische Regierung in einem innenpolitischen Kraftakt eine Kurskorrektur in der Zypern-Politik vollzogen. Sie wird sich kaum jenseits des UN-Friedensplanes auf einen von der Republik Zypern diktierten Plan, der die türkischen Zyprioten marginalisiert, einlassen. So verwundert es nicht, dass die Bürokraten im türkischen Außenministerium sich auf langatmige Verhandlungen einstellen.
Leicht fallen die Verhandlungen mit der EU der türkischen Regierung nicht. Gequält von der Zypern-Frage, von Querschlägen aus Frankreich und Österreich, muss sie sich innenpolitisch gegen starke Kräfte im staatlichen Apparat wehren, die wenige Wochen vor Beginn der Beitrittsverhandlungen Munition für die Gegner der Türkei in der EU liefern.
Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass eine Verschwörung im Gang sei. Die Anklage gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk, den diesjährigen Friedenspreisträger, gehört dazu.
In einer sensationellen Entscheidung verbot vergangene Woche ein Istanbuler Verwaltungsgericht die Durchführung einer Konferenz zur Vertreibung und zum Massaker an den Armeniern 1915. Kritische türkische Wissenschaftler hatten die Konferenz um den offiziell tabuisierten Massenmord initiiert.
Mit ungewöhnlich scharfen Worten kritisierte Ministerpräsident Erdogan das Verbotsurteil des Gerichtes und sprach von einer "Provokation". Die Konferenz fand statt, trotz gerichtlichen Verbots, das Verfassungsrechtler ohnehin für verfassungswidrig erklärten.
Ein gewaltiges Polizeiaufgebot sicherte die Konferenz vor faschistischen Gruppen, die mit Eiern und Tomaten warfen. Der Außenminister schickte sogar eine Botschaft, in der von der "tragischen Periode" und dem Leiden des "türkischen und armenischen Volkes" die Rede ist.
Ende offen
Das Eis, auf dem sich Ministerpräsident Erdogan in Richtung Europa bewegt, ist dünn. Doch er weiß, dass in diesem Punkt die große Mehrheit der Bevölkerung hinter im steht. Die Verhandlungen werden kein Zuckerschlecken sein, und es ist keineswegs sicher, ob sie zum gewünschten Beitritt der Türkei in die EU führen werden.
Jederzeit können die Verhandlungen abgebrochen werden. Fest steht allemal, dass bislang die Verhandlungen mit der EU eine innenpolitische Dynamik entfaltet haben, die erheblich zur Demokratisierung der Gesellschaft beigetragen hat.
Ömer Erzeren
© Qantara.de 2005
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