Neue Perspektiven für soziale Anerkennung

Der Blick auf die jüngere deutsch-türkische Vergangenheit zeigt, dass die EU-Integration der Türkei auch einen wichtigen Beitrag zur Integration der Türken in Deutschland leisten kann, argumentiert Faruk Şen.

Der Blick auf die jüngere deutsch-türkische Vergangenheit zeigt, dass die EU-Integration der Türkei auch einen wichtigen Beitrag zur Integration der Türken in Deutschland leisten kann, argumentiert Faruk Şen.

Türkischer Vater mit Kind vor deutscher und türkischer Nationalfahne; Foto: dpa
Die EU-Integration der Türkei könnte auch positive Auswirkungen auf die Integration der in Deutschland lebenden Türken haben, meint Faruk Şen.

​​Als die Stiftung "Zentrum für Türkeistudien" vor einiger Zeit in einer repräsentativen Umfrage die deutsche Bevölkerung nach ihrer Einstellung zum EU-Beitritt der Türkei befragte, war eines der interessantesten Ergebnisse die jeweiligen Argumente der Beitrittsbefürworter und Beitrittsgegner.

Nicht überraschend, aber zumindest unerwartet, war das häufigste Argument gegen die EU-Integration der Türkei nicht die Sorge um die Zuwanderung von Arbeitskräften nach Deutschland oder die Belastung für den Bundeshaushalt, sondern vielmehr die Menschenrechtslage in der Türkei bzw. ihre Wahrnehmung.

Verbesserte Integration von Türken in Deutschland

Wirklich überraschend war aber das häufigste Argument der Beitrittsbefürworter: Nicht Handelserleichterungen, Rohstoffversorgung oder sicherheitspolitische Erwägungen stehen bei ihnen an erster Stelle, sondern die Hoffnung auf eine Verbesserung der Integration der in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten aus der Türkei.

Damit knüpfen die Befürworter des Beitritts Hoffnungen an die EU-Integration der Türkei, die zunächst schwer nachvollziehbar erscheinen – sieht man davon ab, dass der Beitritt der Türkei das Selbstbewusstsein der Deutschtürken steigern und ein Mehr an sozialer Anerkennung für sie bedeuten würde.

Beides ist sicher eine wichtige Voraussetzung für das weitere Gelingen von Integration in Deutschland, aber, so haben Kritiker in der Vergangenheit immer wieder vorgebracht, kann dies wirklich als Argument für die Notwendigkeit des EU-Beitritts der Türkei herhalten?

Bedeutet Integration nicht auch die Loslösung von der Herkunftsgesellschaft und die Identifikation mit Deutschland? Muss soziale Anerkennung nicht primär von der Aufnahmegesellschaft gewährt werden?

Offene Fragen im Staatsangehörigkeitsrecht

Diese Einwände sind nicht von der Hand zu weisen. Jenseits grundsätzlicher Erwägungen hat aber die jüngere Vergangenheit eine Reihe von Beispielen geliefert, die eine EU-Aufnahme der Türkei aus rein pragmatischer Sicht auch für die Integration der Türken in Deutschland sinnvoll erscheinen lassen.

Denn viele Belastungen im Zusammenleben resultieren in oder folgen aus der – angesichts von 2,7 Millionen Türken in der Bundesrepublik – mangelnden zwischenstaatlichen Integration Deutschlands und der Türkei.

Das jüngste Beispiel ist die Wiederannahme der türkischen Staatsangehörigkeit durch die nach dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht nach 2.000 in Deutschland eingebürgerten Türken. Es zeigt den engen Zusammenhang zwischen der Zuwandererintegration und der zwischenstaatlichen Integration.

Nachdem die Frage der Legitimität der Landtagswahlen in NRW 2005 aufgekommen war – immerhin waren hier 180.000 Deutschtürken wahlberechtigt – drohte denjenigen, die die türkische Staatsbürgerschaft wieder angenommen haben, der Verlust des deutschen Passes und damit das zumindest vorläufige Ende ihrer politischen Partizipationschance in Deutschland.

Zugleich ist die Praxis der Wiedereinbürgerung und die Informationspolitik der türkischen Regierung zu einer Belastung der zwischenstaatlichen Beziehungen geworden. Eine EU-Integration der Türkei würde diese Probleme entschärfen bzw.

Partizipation auf lokaler und europäischer Ebene auch für die nicht Deutschen ermöglichen, wie es bei den Angehörigen der anderen großen Gastarbeiternationalitäten in Deutschland längst der Fall ist.

Dieses Beispiel ist nur eines aus einer langen Reihe von Problemen in den deutsch-türkischen Beziehungen, die sich auch mittelbar oder unmittelbar auf die Integrationschancen der Deutschtürken auswirkt haben. Erinnert man diese Probleme, so gewinnt das Argument, der EU-Beitritt der Türkei bedeute auch eine Integrationschance für die in Deutschland lebenden Türken, deutlich an Kraft.

Positive Impulse für Miteinander von Christen und Muslimen

Ganz offenbar sind die rechtsstaatlichen Reformen und ein besserer Minderheitenschutz in der Türkei ganz unmittelbar förderlich auch für das Zusammenleben in Deutschland.

Erst die EU-Annäherung des Landes erlaubte etwa die Abschiebung des Kölner "Kalifen" Metin Kaplan an den Bosporus, womit eine Belastung der deutsch-türkischen Beziehungen und des Zusammenlebens von Christen und Muslimen in Deutschland gleichermaßen wegfiel.

Die Verbesserung der Menschenrechtssituation hat weiterhin zu einem entscheidenden Rückgang der Asylbewerberzahlen in Deutschland geführt, insbesondere von Menschen kurdischer Abstammung. Damit geht auch der Anteil der Türkeistämmigen ohne dauerhafte Lebensperspektive und die damit verbunden schlechten Integrationschancen in Deutschland zurück.

Die Aufhebung der Notstandsgesetze in den kurdisch besiedelten Landesteilen zum Zwecke der Erfüllung der Kopenhagener EU-Beitrittskriterien hat zugleich den regelmäßig in Deutschland aufkommende Debatten um die Legitimität von Rüstungsexporten in die Türkei die Schärfe genommen und damit einen Störfaktor in den deutsch-türkischen Beziehungen beseitigt.

"Entgrenzung" und Globalisierung

Als eine der größten Herausforderungen für die Integrationspolitik in den nächsten Jahren könnte sich die "Entgrenzung" der Zuwanderungsprozesse erweisen, und aus ihr resultieren auch viele deutsch-türkische Probleme der jüngeren Zeit.

Im Zeichen der Globalisierung haben wir es immer weniger mit stetigen Aufenthalten zu tun. Viele Türkeistämmige pendeln zwischen Deutschland und der alten Heimat, der Ehegattennachzug gewinnt an Bedeutung, elektronische Medien bringen die Welt der Türkei in die Wohnzimmer in Deutschland, usw. Integrationspolitik wird damit letztendlich zu einem internationalen Thema.

Dabei geht es nicht allein um den Austausch von Menschen, sondern auch um Güter und Kapital. Seit Mitte der 1970er Jahre etwa bot die Türkei ihren im Ausland leben Bürgern an, Devisenkonten bei der türkischen Zentralbank zu sehr günstigen Zinskonditionen einzurichten, deren Erträge von einem großen Teil der Anleger in Deutschland nicht versteuert wurden.

Als 1999 der deutsche Fiskus auf dieses Problem aufmerksam wurde, bedeutete dies Steuernachforderungen für die Betroffenen in oft immenser Höhe. Die Zugehörigkeit der Türkei zu einem integrierten europäischen Finanzsystem würde vergleichbaren Entwicklungen zukünftig vorbeugen.

Der Blick auf die jüngere deutsch-türkische Vergangenheit zeigt also, dass die Vorstellung, die EU-Integration der Türkei könne auch einen wichtigen Beitrag zur Integration der Türken in Deutschland leisten, keineswegs so nebulös ist, wie von den Gegnern des türkischen Beitritts mitunter unterstellt wird.

Faruk Şen

Faruk Şen; Foto: DW

​​© Qantara.de 2007

Prof. Dr. Faruk Şen ist Direktor der Stiftung Zentrum für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen.

Qantara.de

Migration
Türkische Diaspora in Deutschland
Dass Migranten auf Dauer kommen, hat die Bundesrepublik zu lange nicht wahrhaben wollen. Vier Jahrzehnte türkischer Zuwanderung nach Deutschland zeugen von Fehleinschätzungen und Versäumnissen, die weder tolerantes Zusammenleben am neuen Lebensmittelpunkt noch erfolgreiche Heimkehr in die alte Heimat zuließen. Von Faruk Sen

Interview Faruk Sen:
"Die Landesregierung sollte in der Türkei werben"
Türken sind innovativ und risikofreudig, sagt Faruk Sen. Deshalb seien sie die ideenreichsten Geschäftsleute, fielen aber auch häufiger auf die Nase. Seine Prognose ist düster: Die Türkischstämmigen in NRW verarmten zunehmend und hegten häufiger den Wunsch, zurückzukehren.

Muslime in Deutschland
Integration bedeutet nicht Assimilation
Experten beklagen, dass Integrationsfortschritte von Muslimen in Deutschland kaum wahrgenommen würden. Stattdessen überwiegen in Medien und Öffentlichkeit Negativbilder von Migranten-Ghettos oder schlechten schulischen Leistungen türkischer Kinder. Vedat Acikgöz berichtet