Lackmustest für Europa
In der Türkei ist der Reformeifer erlahmt, der Graben zwischen säkularisierten Eliten und religiösen Kräften ist tiefer denn je. Doch müsste die EU nicht gerade in dieser Situation die säkularen und demokratischen Kräfte deutlicher als bisher unterstützen, um das Land stärker an Europa zu binden? Von Zafer Senocak
Die Frage, ob die Türkei Vollmitglied der Europäischen Union werden soll, spaltet die Europäer. Sie wird immer mehr zum Lackmustest für die kulturelle Orientierung Europas, für das Verhältnis der Europäer gegenüber dem, was sie als fremd empfinden.
Denn in der Türkei wird das kulturell Andere vermutet. Den Turban findet man zwar nur noch auf den orientalistischen Bildern in den Museen. Der Schleier und das Kopftuch aber sind auf den Straßen anatolischer Großstädte noch zu sehen. Und diese anatolischen Szenen sind inzwischen auch Bestandteil europäischer Metropolen.
Schreckensszenarien
Hinzu kommt das Gefühl, der Islam bedrohe Europa und seine freien, aufklärerischen Werte. Und das ist nicht nur ein Gefühl, wenn man die zurückgesetzte Rolle der Frauen in nicht wenigen muslimischen Familien betrachtet.
Die Türkei, das bedeutet ungeachtet der säkularen Ausrichtung des türkischen Staates, vor allem auch Islam - fast 80 Millionen Muslime, die nach Europa drängen. Das ist ein großes Reservoir für alle, die Schreckenszenarien an die Wand malen möchten. "Der Untergang des Abendlandes" ist ein Buch, an dem im Westen fortwährend weiter geschrieben wird.
Die Vermutung, dass die Türkei heute kulturell etwas anderes darstellt, als das Bild, in dem sich Europa selbst erkennen möchte, hat durchaus berechtigte Gründe. Die türkische Moderne ist komplex und widersprüchlich. Doch welche Modernisierungsgeschichte ist das nicht?
Die Türkei allerdings hat im Laufe seiner inzwischen fast hundertjährigen Modernisierungslaufbahn einen in Europa einmaligen Militarismus entwickelt. Das Militär ist überall sichtbar, politisch wie gesellschaftlich einflussreich.
Türkische Offiziere sind nicht einfach nur Angestellte des Staates, die für die Landesverteidigung bereit stehen. Sie sind auch Hüter der gesellschaftlichen Ordnung und Garant für die Einhaltung der Prinzipien des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk.
Nachlassender Reformeifer
Doch muss das auf Ewigkeiten so bleiben? Oder wäre nicht gerade die erfolgreiche Demokratisierung eines muslimischen Landes, die Versöhnung zwischen muslimischer Prägung und offener Gesellschaft vorbildhaft?
Allein der Glaube daran fehlt. Und wie die momentane Entwicklung in der Türkei zeigt, auch der Wille. Die Reformen sind erlahmt. Der Graben zwischen der säkularisierten Elite und den Frommen ist tiefer denn je.
Soll sich Europa also von der Türkei und damit auch von der islamischen Welt deutlich abgrenzen? Oder müsste es nicht gerade jetzt die säkularen und demokratischen Kräfte dort aufmuntern und stärken? Europa habe christliche Wurzeln, hört man in letzter Zeit häufig. So als hätte Voltaire von der Bibel abgeschrieben.
Hat Europa kein islamisches, kein jüdisches Erbe? Und wenn die Türkei draußen vor bleibt, was wird dann aus den vielen Angehörigen der islamischen Religion, die auf europäischem Boden leben? All diese Fragen sind ernst zu nehmen.
Neudefinition des Kulturbegriffes
Denn sie deuten darauf hin, dass der Kulturbegriff an sich problematisiert werden sollte. Was verstehen wir unter Kultur? Zivilisatorische Errungenschaften, die auf einen dynamischen Kulturbegriff zurückgehen, oder geistiges Blut, das nur erblich zu erlangen ist.
Seit der Gründung der Türkischen Republik hat sich die Türkei für die erste Variante entschieden. Die Geschichte der Türkischen Republik ist zugleich die eines Zivilisationsprojektes.
Die Devise Mustafa Kemals lautete: Es gibt viele Kulturen, aber nur eine Zivilisation. Diese Einstellung fordert die Kulturalisten hüben wie drüben heraus, die von der Deckungsgleichheit ihrer Kultur mit der Zivilisation überzeugt sind.
Europäische Identität im Wandel der Zeit
Auf einer solchen monokulturellen Basis aber lässt sich ein Europa der Vielfalt nicht aufbauen. Wer heute die Türkei nicht dabei haben möchte, läuft vor der eigenen Geschichte und ihrem schwierigen Erbe davon.
Ebenso verschließt er sich den Herausforderungen der heutigen Zeit. Europäische Identität muss sich um eine andere Konstruktion bemühen, als der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts.
Das fällt all jenen schwer, die die Geschichte einfach nur fortschreiben wollen. Die Geschichte aber lässt sich spätestens seit 1945 nicht mehr einfach nur fortschreiben. Das europäische Projekt war ja gerade der Ausdruck und die Folge eines Bruchs, verursacht durch Weltkriege und Faschismus.
Das christliche Abendland gibt es so wenig, wie das muslimische Morgenland. Wenn es sie geben würde, gäbe es die Türkei nicht auf einer solchen Landkarte. Man kann und sollte viele kritische Fragen an die Türkei richten.
Fortschrittsberichte auch für EU-Staaten
Wie erfolgreich ist das Land bei der selbst proklamierten Bemühung um zivilisatorische Werte? Defizite und Widersprüche sind unübersehbar. Doch diese Frage muss auch an Europa gestellt werden. Immer wieder. Denn die zivile Gesellschaft ist kein Endstadium, sondern ein dynamischer Prozess, den man immer wieder ins Bewusstsein rücken muss.
Die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte lässt beispielsweise in vielen europäischen Ländern zu wünschen übrig. Weitgehend unverarbeitet ist die Kolonialgeschichte, ebenso das Verhältnis zu Minderheiten. Es müsste auch so etwas wie einen Fortschrittsbericht für Europa geben, nicht nur für Beitrittskandidaten.
Ein sachlicher Umgang mit der Türkeifrage hätte in einem solchen Fortschrittsbericht ebenso eine Rolle zu spielen wie das Verhältnis der großen Flächenstaaten gegenüber den kleinen.
Zafer Senocak
© Qantara.de 2006
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