Verwunderung über Europas Vergesslichkeit

Die Kritik der EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht zur Türkei stößt bei der Führung in Ankara auf politisches Unverständnis. Grund: Die Europäer wollten von der Vorgeschichte des Zypern-Konflikts nichts wissen und würden diesen nur sehr einseitig auslegen. Von Jürgen Gottschlich

Die Kritik der EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht zur Türkei stößt bei der Führung in Ankara auf politisches Unverständnis. Grund: Die Europäer wollten von der Vorgeschichte des Zypern-Konflikts nichts wissen und würden diesen nur sehr einseitig auslegen. Hintergründe von Jürgen Gottschlich

Fahnen der Türkei, Rumäniens, Bulgariens und Kroatiens vor dem Europarat; Foto: dpa
Symbolisch mit von der Partie, politisch außen vor - die EU-Kommission stellt in ihrem Fortschrittsbericht der Führung in Ankara schlechte Noten aus.

​​Schon einen Tag nach der Vorlage des EU-Fortschrittsberichts zur Türkei war klar, dass die Beitrittsverhandlungen, kaum begonnen, schon Ende dieses Jahres wieder Geschichte sein könnten.

Der Grund dafür ist aber nicht so sehr die scharfe Kritik an den mangelnden türkischen Reformbemühungen im Bereich Meinungsfreiheit, Minderheitenrechte und zivile Kontrolle des Militärs, sondern die ultimative Forderung der EU an die Türkei, innerhalb des kommenden Monats ihre Häfen und Flughäfen für die griechischen Zyprioten zu öffnen.

Widerstand gegen Ultimatum

Premierminister Tayyip Erdogan hat bereits unmittelbar nach der Präsentation des Berichts gesagt, dass er es für nicht sehr realistisch halte, dass diese Forderung innerhalb der verfügten Frist umgesetzt wird, und auch unter den Kommentatoren in den Medien am Tag danach gibt es niemanden, der dieses Ansinnen aus Brüssel nachvollziehen kann.

Im Gegenteil, Erdogan, der im kommenden Jahr vor Präsidentschafts- und Parlamentswahlen steht, würde nach Ansicht sämtlicher Meinungsführer politischen Selbstmord begehen, wenn er der Forderung aus Brüssel nachgeben würde.

Ein Jahr nach Beginn der Beitrittsverhandlungen ist die Zustimmung der türkischen Bevölkerung zur EU dramatisch gesunken. Der höchst kritische Fortschrittsbericht sorgt deshalb auch nicht mehr, wie in den letzten Jahren immer, für große Aufregung oder heftige Empörung, die Mehrheit der Türken reagiert vielmehr mit einem Schulterzucken. Wenn die EU die Verhandlungen abbrechen will, soll sie das doch tun. "Es interessiert mich nicht mehr", schrieb gestern Behir Coskun, ein prominenter Kommentator der größten Tageszeitung "Hürriyet".

Zankapfel Zypern-Frage

Diese massive Enttäuschung ist nicht zuletzt der Zypern-Frage geschuldet. Niemand in der Türkei versteht oder akzeptiert gar, dass die EU-Kommission und fast alle EU-Mitgliedsstaaten sich so bedingungslos hinter die Forderungen der griechischen Zyprioten stellen.

"Wir wundern uns alle über die Vergesslichkeit der Europäer", sagte Haluk Sahin, Schriftsteller, EU-Befürworter und erst kürzlich ein Opfer des berüchtigten Strafrechtsparagraphen 301, der die Beleidigung des Türkentums ahndet. "Die innenpolitische Kritik ist völlig berechtigt", meint Sahin deshalb auch, "aber in Bezug auf Zypern liegt die EU doch falsch."

Worauf sämtliche türkischen Politiker und Kommentatoren immer wieder hinweisen, ist, dass die scheinbar so eingängige Formel, wonach es doch selbstverständlich sein müsse, dass ein Beitrittskandidat zuerst einmal alle Mitglieder des Clubs, dem er beitreten will, diplomatisch anerkennen muss, hochgradig verlogen ist. Niemand in Brüssel, so der Eindruck in der Türkei, will von der Vorgeschichte des Zypern-Konfliktes noch etwas wissen.

Brüssels hausgemachtes Problem

Dabei hatte gerade die EU jahrelang immer vertreten, ein Beitritt Zyperns sei nur sinnvoll, wenn die Spaltung der Insel in einen griechischen und einen türkischen Teil vorher überwunden sei.

Weil Griechenland jedoch damals damit gedroht hatte, den Beitritt der osteuropäischen Länder durch ein Veto zu blockieren, wenn die EU nicht im Gegenzug bereit ist, auch den griechischen Teil Zyperns allein aufzunehmen, hat Europa im Mai 2004 gleichzeitig mit den osteuropäischen Staaten den Zypern-Konflikt importiert.

Vorangegangen waren zwei Volksabstimmungen im griechischen Süden und türkischen Norden der Insel, bei denen über einen UN-Plan zur Wiedervereinigung - und damit über eine politische Lösung der Spaltung - abgestimmt wurde, den die EU massiv unterstützte.

Zwei Drittel der türkischen Zyprioten stimmten für den Plan, zwei Drittel der griechischen Zyprioten dagegen. Trotzdem wurden die Griechen Mitglieder der EU und die türkischen Zyprioten blieben nicht nur draußen, sondern die Regierung Papadopoulos sorgte als nunmehr frisch gebackenes EU-Mitglied auch dafür, dass die Gemeinschaft noch nicht einmal wie versprochen das Wirtschaftsembargo gegen die türkischen Zyprioten aufhob.

Dass die EU nun trotzdem ultimativ fordert, die Türkei müsse ihrerseits die griechisch-zypriotische Regierung anerkennen und ihre Häfen und Flughäfen auch für Griechisch-Zypern öffnen, hat das Vertrauen des größten Teils der türkischen Bevölkerung in die EU zutiefst erschüttert.

Forderung nach Aufhebung des Embargos

Die türkische Öffentlichkeit, meint Haluk Sahin, wartet nun auf ein Signal aus Brüssel, das deutlich macht, dass die große EU sich nicht vom kleinen Mitglied Zypern als Geisel nehmen lässt. Praktisch bedeutet das die Aufhebung des Handelsembargos gegenüber den türkischen Zyprioten, also einen direkten Handel mit der EU über den nordzypriotischen Hafen Famagusta und den Flughafen Ercan.

Der Vorschlag, den die finnische EU-Ratspräsidentschaft bislang vorgelegt hat, sieht aber nur eine Öffnung des Seehafens und nicht des Flughafens vor. Das ist sowohl dem nordzypriotischen Präsidenten Mehmet Talat, als auch dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan zu wenig.

Wenn Finnland der Regierung Papadopoulos nicht doch noch eine Zustimmung zur Öffnung des Flughafens in Nordzypern abringen kann, wird beim EU-Gipfel im Dezember wohl das Kapitel Türkei-Mitgliedschaft erst einmal geschlossen werden. Wie es jetzt aussieht, steht zu befürchten, dass die Verhandlungen, wenn nicht förmlich abgebrochen, so doch de facto auf Eis gelegt werden.

Jürgen Gottschlich

&copy Qantara.de 2006

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