„Der Kontext ist entscheidend“

Ursula von der Leyen in Ägypten mit dem Gouverneur von Nordsinai Mohamed Abdel-Fadil Shousha
Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, am 18. November 2023 in Ägypten. Dort sprach sie mit führenden Politikern der Region über den Nahostkonflikt, Foto: Hans Lucas/Union Europeenne via picture alliance.

Bisher hat die Europäische Union (EU) keine nennenswerte Vermittlerrolle im Nahen Osten übernommen. Wie kann sie wirksam zu einer dauerhaften Friedenslösung nach dem Gaza-Konflikt beitragen? Welchen Kurs sollte sie gegenüber autoritären Regimen in der Region einnehmen? Der Nahosthistoriker Lorenzo Kamel gibt Antworten.

Interview von William Billows

Auf die Frage, warum der G7-Gipfel im Juni in Italien Israel nicht für den Tod von Zivilisten im Gazastreifen verurteilte, antwortete die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni: „Wir müssen uns daran erinnern, wer das alles angefangen hat, und das war nicht Israel“. Wie würden Sie diese Aussage kommentieren?

Lorenzo Kamel: Der verbrecherische Angriff, der am 7. Oktober von der Hamas und anderen palästinensischen Gruppen verübt wurde, muss unmissverständlich verurteilt werden. Diejenigen, die die Verbrechen zu verantworten haben, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn wir darüber sprechen, was in Gaza passiert, müssen wir über die Verbrechen der Hamas reden. Doch ebenso wie die Verurteilung und Bestrafung dieser Verbrechen ist die Anerkennung der jahrzehntelangen leidvollen Erfahrung der Palästinenser notwendig.

Und es kommt auf Kohäränz im Kontext an. Ausgehend von den tragischen Geschichten von Dörfern wie Huj, Najd, Abu Sitta, Majdal, al-Jura, Yibna und Bayt Daras könnte ein solcher Kontext hergestellt werden. Die drei letztgenannten Dörfer sind die Orte, aus denen die Gründer der Hamas – Ahmed Yassin, Abd al-Aziz al-Rantisi und Ibrahim al-Yazuri – als Kinder in den sogenannten Gazastreifen vertrieben wurden. Den Kontext herzustellen, sollte natürlich niemals Gewalt oder Verbrechen irgendeiner Partei rechtfertigen, sondern als Gegenmittel zu vereinfachenden Narrativen und ideologischen Behauptungen dienen. Es gibt zwei Rechte, zwei tief verwurzelte Geschichten und Millionen unterschiedlicher Traumata. Eine Vereinfachung beider ist inakzeptabel.

„Es gibt zwei Rechte, zwei tief verwurzelte Geschichten und Millionen unterschiedlicher Traumata. Eine Vereinfachung beider ist inakzeptabel.”

Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni während des G7-Gipfels in Italien am Rednerpult
Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni während des G7-Gipfels in Borgo Egnazia (Brindisi), Italien am 13. Juni 2024, Foto: Vannicelli/IPA via Zumapress.com/picture alliance.

Mehrere europäische Staaten erkennen einen palästinensischen Staat an, andere nicht. Glauben Sie, dass die Anerkennungen den Druck auf Israel erhöhen werden, die Gründung eines palästinensischen Staates zu erleichtern? Wie analysieren Sie die aktuelle Situation?

Kamel: Diese Anerkennungen haben begrenzte Auswirkungen und führen nicht zu unmittelbaren Veränderungen. Dennoch handelt es sich um einen Konflikt, der historisch gesehen auch stark von Symbolen und Gesten beeinflusst wurde. Die Anerkennung des Staates Palästina durch eine wachsende Zahl von EU-Ländern ist ein deutliches Signal, das in erster Linie darauf abzielt, eine „historische Anomalie“ anzuprangern: Es gibt weltweit keinen anderen Kontext, in dem Millionen von Zivilisten seit über 50 Jahren ohne Staat und ohne Staatsbürgerschaft eines Landes leben.

„Es gibt weltweit keinen anderen Kontext, in dem Millionen von Zivilisten seit über 50 Jahren ohne Staat und ohne Staatsbürgerschaft eines Landes leben.”

Die Anerkennung eines palästinensischen Staates, der das Westjordanland, Ostjerusalem und den Gazastreifen umfasst, durch alle EU-Mitgliedstaaten wäre ein Schritt. Ein Weiterer wäre ein stärkeres Engagement für die sogennte Differenzierungsagenda – eine EU-Politik, die zwischen Israel und den seit Juni 1967 besetzten Gebieten unterscheidet. Zudem sind rigorose wirtschaftliche und politische Sanktionen gegen alle involvierten Akteure, die nicht bereit sind, sich an den internationalen Konsens zu halten, entscheidend, um zu Frieden und einer nachhaltigen Lösung zu kommen. Auch wenn diese Maßnahmen allein den Frieden nicht herbeiführen, sind sie wesentlich für den Weg dorthin. Daher sollte die EU in ihrem Bestreben, ein glaubwürdiger Vermittler zu sein, die zunehmende Anerkennung eines palästinensischen Staates durch ihre Mitgliedstaaten unterstützen und befürworten, insbesondere angesichts des erheblichen Machtungleichgewichts vor Ort.

Die israelischen Behörden betrachten das Westjordanland als umstrittenes und nicht als besetztes Gebiet, da dessen Status historisch und rechtlich kompliziert sei. Können Sie dies näher erläutern?

Kamel: Die israelischen Behörden rechtfertigen ihre Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten mit dem Argument eines „historischen Rechts auf Judäa and Samaria”, also auf Gegenden, in denen im Laufe der Geschichte verschiedene Völker und Zivilisationen gelebt haben. Viele israelische Politiker argumentieren, dass das Westjordanland „das Herz des historischen jüdischen Heimatlandes“ sei.

Wenn dies jedoch die Hauptbegründung für die Einverleibung von zusätzlichem Land ist, sollte Israel auf Aschkelon, Aschdod und den Teil des Küstengebiets verzichten, das nie zu einem alten israelitischen Königreich gehörte. Dutzende von archäologischen Expeditionen, die im Laufe der Jahre im Hinterland von Aschkelon – einer der fünf alten Philisterstädte, die heute das Gebiet umfasst, das bis 1948 das palästinensische Dorf al-Majdal war – durchgeführt wurden, haben bestätigt: Das Gebiet wurde nie von den alten Israeliten erobert.

Und selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich um eine Eroberung handelte, bedeutet die Besetzung eines Gebietes für einige Jahre nicht, dass es sich um einen Teil eines „prägenden Territoriums“ handelte. Andernfalls würden die vielen Überfälle der Philister und die Besetzung israelitischer Städte bis hin zum Jordantal diese Gebiete ebenfalls „weniger“ israelitisch machen.

Ein weiteres Beispiel ist das palästinensisch Dorf Umm Rashrash, dem heutigen Eilat. Letzteres wurde am 10. März 1949 von den Negev- und Golani-Brigaden erobert, acht Monate nachdem die Resolution 54 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen einen Waffenstillstand gefordert hatte, die jede künftige Landnahme verhindern sollte.

Die Legitimität Eilats als Teil des Staates Israel beruht heute auf einem breiten internationalen Konsens. Derselbe Konsens, der von über 150 Ländern unterstützt wird, lehnt jedwede Annexion ab und betrachtet die von der israelischen Regierung finanzierten Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten als illegal. Es ist inkonsequent, sich auf den internationalen Konsens bezüglich Eilats und anderer Gebiete zu berufen, während man ihn in Bezug auf das Westjordanland, Ostjerusalem oder die Golanhöhen missachtet. Viele Beobachter und Analysten übersehen sowohl die selektive Verwendung der Logik des „historischen Heimatlandes“ als auch das Rosinenpicken beim internationalen Konsens.

Blick vom Meer aus auf den Golf von Akaba. Links liegt Eirat in Israel und rechts liegt Akaba in Jordanien.
Der Golf von Akaba. Auf der linken Seite liegt die Stadt Eilat (Israel) und auf der rechten Seite ist die Stadt Akaba (Jordanien) zu sehen, Foto: Peter Jurgilewitsch via piranhadestinations/picture alliance.

Ist es vorstellbar, dass die Anerkennung eines palästinensischen Staates in die Richtung interpretiert werden könnte, dass die Hamas „belohnt“ wird?

Kamel: Das Streben der Palästinenser nach Selbstbestimmung geht weit über die Hamas hinaus und geht ihr voraus. Von dem bekannten israelischen General Moshe Dayan sind die Worte überliefert: „Wenn du Frieden schließen willst, redest du nicht mit deinen Freunden. Du redest mit deinen Feinden.“

„Wenn du Frieden schließen willst, redest du nicht mit deinen Freunden. Du redest mit deinen Feinden”. [Moshe Dayan]

Persönlichkeiten wie Menachem Begin und Yitzhak Shamir verantworteten schwere Anschläge, die auch palästinensische Zivilisten trafen. Später wurden sie jedoch Premierminister des Staates Israel. Darüber hinaus wird die israelische Regierung in den Augen der Palästinenser auch heute noch als permanenter Besatzer gesehen, der die palästinensische Selbstbestimmung ausdrücklich ablehnt und Kriegsverbrechen begangen haben soll. Und wir kehren zu Dayans Worten zurück: Man kann sich seine Feinde nicht aussuchen, und das gilt gleichermaßen für Palästinenser und Israelis.

Kann Europa positive Impulse und Ideen für eine Nachkriegsordnung geben? Wie könnten diese realisiert werden?

Kamel: Europa ist anfällig für den Vorwurf der Doppelmoral, was besonders deutlich wird, wenn es Russland für wahllose Angriffe in der Ukraine verurteilt und sanktioniert, aber eine andere Haltung einnimmt, wenn es in Gaza zu ähnlichen Angriffen kommt, die zu einer unverhältnismäßig hohen Zahl von Opfern etwa bei Kindern führen. Dieser Kontrast wird dadurch verstärkt, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten, wichtige Handelspartner Israels, dem israelischen militärisch-industriellen Komplex seit Jahren erhebliche Subventionen für Forschung und Entwicklung gewähren. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht vom Juni 2024, der von 19 zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gewerkschaften erstellt wurde, hebt außerdem hervor, dass große Finanzinstitute in Europa in internationale Waffenproduzenten investieren, die Waffen nach Israel liefern. Diese Beispiele unterstreichen ein breiteres Muster. Anstatt sich nur darauf zu konzentrieren, wie Europa positiven Einfluss ausüben kann, ist es von entscheidender Bedeutung, die historisch negative Rolle Europas in diesem Konflikt zur Kenntnis zu nehmen und anzugehen.

„Anstatt sich nur darauf zu konzentrieren, wie Europa positiven Einfluss ausüben kann, ist es wichtig, die historisch negative Rolle Europas in diesem Konflikt zur Kenntnis zu nehmen und anzugehen.”

Die Frage, „wie wir ihnen helfen können“, ist in diesem Zusammenhang komplex und erfordert Demut angesichts der europäischen Eigeninteressen und des bisherigen Handelns.

Angesichts der weitreichenden Kontrolle Israels über die Westbank sowie der hohen Verluste an Menschenleben und der fortgesetzten Anwendung von Militärgerichten: Was ist mit der Menschenrechtsklausel im Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel?

Kamel: Etwa 94 Prozent des in den israelischen Steinbrüchen im Westjordanland produzierten Materials werden nach Israel transportiert, das die Kontrolle über die Grenzen, die Luft, das Wasser, die Elektrizität, das Bevölkerungsregister, die Bewegungsfreiheit – auch zwischen den palästinensischen Enklaven im Westjordanland – und vieles andere in der gesamten Region hat. Zudem wurden zwischen Januar 2008 und dem 6. Oktober 2023, also einen Tag vor den Terroranschlägen der Hamas und anderer palästinensischer Gruppen, 6.407 Palästinenser und 308 Israelis getötet. Und schließlich wurde in keinem anderen Kontext als in den besetzten palästinensischen Gebieten seit über einem halben Jahrhundert Militärtribunale gegen Tausende von Zivilisten verhängt. Trotz dieser und vieler anderer Elemente besteht die Menschenrechtsklausel im Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel seit Jahrzehnten nur auf dem Papier.

„In keinem anderen Kontext als in den palästinensischen Gebieten wurde seit über einem halben Jahrhundert Militärtribunale gegen Tausende von Zivilisten verhängt. Trotz dieser und vieler anderer Elemente besteht die Menschenrechtsklausel im Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel seit Jahrzehnten nur auf dem Papier.”

Gleichzeitig ist die EU-Hilfe für die Palästinenser beträchtlich...

Kamel: Der EU-Block mit 27 Ländern ist der wichtigste Geber von Hilfen für die besetzten palästinensischen Gebiete. Dennoch hat der israelische Ökonom Shir Hever gezeigt, dass „mindestens 72 Prozent der internationalen Hilfe, die für die Palästinenser bestimmt ist, in der israelischen Wirtschaft landet“. In diesem Zusammenhang empfehle ich Ihnen, sein Buch „Die politische Ökonomie der israelischen Besatzung“ zu lesen, in dem er die Kosten der Besatzung, der Auslandshilfe und der humanitären Hilfe aufschlüsselt.

Die EU hat sich für eine dauerhafte Waffenruhe und die Freilassung der Geiseln ausgesprochen. Ist das ausreichend? Welche Themen sollte die EU sonst noch angehen?

Kamel: Ein Waffenstillstand ist notwendiger denn je und könnte auch der einzige Weg sein, die Geiseln lebend zu befreien. Die Befreiung der israelischen Geiseln hat Priorität, und die Hamas muss für die massive Verletzung internationalen Rechts zur Rechenschaft gezogen werden. Gleichzeitig sollten wir die „Verwaltungshaft“ nicht außer Acht lassen, die zuerst während der britischen Kolonialherrschaft angewandt und dann von Israel übernommen wurde. Zurzeit befinden sich 5900 Palästinenser in Verwaltungshaft, darunter Zwölfjährige, ohne Anklage oder Gerichtsverfahren.

„Wir sollten die ‚Verwaltungshaft‘ nicht außer Acht lassen, die zuerst während der britischen Kolonialherrschaft angewandt und dann von Israel übernommen wurde. Zurzeit befinden sich 5900 Palästinenser in Verwaltungshaft, ohne Anklage oder Gerichtsverfahren.”

Oft wissen ihre Familien monate- oder jahrelang nichts von ihnen. Seit dem 7. Oktober letzten Jahres hat das Rote Kreuz wiederholt die Tatsache angeprangert, dass es daran gehindert wird, viele Palästinenser in Verwaltungshaft zu besuchen, und dies geschah in einigen Fällen auch vor dem 7. Oktober.

Demonstrierende in Israel. Eine Frau hält ein Schild hoch auf dem "Waffenruhe Rette Leben" steht
Seit Monaten demonstrieren die Menschen in Tel Aviv gegen die israelische Regierung um Präsident Netanyahu und fordern eine Waffenruhe, sowie die Freilassung der von der Hamas entführten Geiseln, Foto: Matan Golan via Sipa USA/picture alliance.

Was kann die EU vor Ort tun? Wie kann Europa seine Initiativen zur Förderung eines nachhaltigen Friedens ausbalancieren?

Kamel: Sami Adwan, ein palästinensischer Pädagoge und Friedensforscher, und Daniel Bar-On, ein israelischer Psychologe, der für seine Arbeit zu kollektivem Gedächtnis und Versöhnung bekannt ist, bieten hier wertvolle Einblicke. Sie haben gemeinsam an Projekten zur Förderung von friedensschaffenden Initiativen zwischen Israelis und Palästinensern gearbeitet. Wenn sich Gewalt ausbreitet, nimmt sie schnell überhand und verschlingt jede Alternative. Zum jetzigen Zeitpunkt müssen die EU und andere externe Akteure einen realistischen Ansatz verfolgen und die Aussagen von Adwan und Bar-On beherzigen, dass „friedensschaffende Maßnahmen allein keinen Frieden schaffen können, wenn es keine laufenden friedensschaffenden Initiativen von oben gibt“. Daher sollten sie ihre Ziele abmildern, sich auf die Schaffung positiver Interaktionen zwischen den Friedensstiftern (das Konzept der „Inseln der Vernunft“) konzentrieren und kleine Projekte initiieren, die ausgeweitet werden können, sobald sie mit künftigen Top-down-Initiativen in Einklang stehen.

Iran, Saudi-Arabien, Ägypten. Die Liste autoritärer oder diktatorischer Regime im Nahen Osten ist lang. Wie sollte Europa im Verhältnis zu diesen Regimen in der Region agieren?

Kamel: Die Iraner haben die katastrophalen Folgen westlicher Einmischung in der Region gesehen und lehnen diese vehement ab. Gleichzeitig wollen sie einen anderen Iran gestalten, einen Iran, der sich – wie es die protestierenden iranischen Studierenden der Teheraner Amir-Kabir-Universität formulierten – „nicht aus Angst vor Despotismus in die Arme des Imperialismus wirft, und einen Iran, der Despotismus nicht im Namen des Widerstands und des Kampfes gegen den Imperialismus legitimiert“. Vom Iran abgesehen: Die Botschaft, die viele autoritäre Regime in der Region in den letzten Jahren erhalten haben, ist, dass sie vor externer Aggression oder Regimewechsel-Strategien sicher sind, solange sie im Einklang mit europäischen oder amerikanischen Interessen handeln.

„Vom Iran abgesehen: Die Botschaft, die viele autoritäre Regime in der Region in den letzten Jahren erhalten haben, ist, dass sie vor externer Aggression oder Regimewechsel-Strategien sicher sind, solange sie im Einklang mit westlichen Interessen handeln”

Mit anderen Worten: Sie können in ihren Konsulaten im Ausland Journalisten töten und zerstückeln - wie im Fall Khashoggi -, Zivilisten aushungern - siehe etwa die Lage im Jemen – oder „weitverbreitete Völkerrechtsverstöße und Menschenrechtsverletzungen“ begehen – wie in Ägypten -, aber ihre Länder werden nicht mit Wirtschaftssanktionen und militärischen Interventionen belegt. Die EU und ihre Mitgliedstaaten könnten zu effektiveren und glaubwürdigeren Akteuren werden, wenn sie in der Lage wären, zu handeln und sich mit Menschenrechtsverletzungen zu befassen, auch wenn diese von Regimen begangen werden, die europäische und westliche Interessen schützen.

Wie können die europäischen Länder und die USA ihrer Meinung nach vorgehen, um Rechenschaftspflicht und gute Regierungsführung zu fördern, anstatt die bestehenden Machtstrukturen zu stärken?

Kamel: Die so genannten arabischen Länder werden von nicht gewählten Regimen regiert, die innenpolitisch höchst unpopulär sind. Straflosigkeit und der Mangel an Rechenschaftspflicht ist die Ursache für viele Probleme in der Region. Wenn die Rechenschaftspflicht sehr schwach ist, entsprechen die staatlichen Dienstleistungen nicht den Bedürfnissen der Bürger, insbesondere der ärmsten Teile der lokalen Bevölkerung. Schwache Regierungsführung und Korruption sind zwei weitere große Probleme, die wesentlich zum Fehlen von Demokratie und funktionierenden Staaten im Nahen Osten beitragen.

„Schwache Regierungsführung und Korruption sind zwei weitere große Probleme, die wesentlich zum Fehlen von Demokratie und funktionierenden Staaten im Nahen Osten beitragen.”

Aber auch hier spielen externe Akteure eine wichtige Rolle, insbesondere europäische Länder und die USA, die repressive Regime als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems betrachten. Es ist kein Zufall, dass sich die ägyptischen Exporte nach Israel gerade verdoppeln und auch die Exporte der VAE und Jordaniens steigen. Ein ehemaliger israelischer General sagte 2015 zu Michael Oren, dem ehemaligen Botschafter seines Landes in den USA: „Warum wollen die Amerikaner der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen? Um die Freiheit des Westens zu verteidigen, müssen sie die Tyrannei des Nahen Ostens bewahren.“ Solche Ansätze sind in unseren Breitengraden durchaus üblich. All dies erinnert uns daran, dass es heute mehr denn je notwendig ist, die getrennten Interpretationen und Narrative zu überwinden, die „unsere Geschichte“ von „ihrer Geschichte“ trennen, und den Weg zu einer demütigeren Annäherung an die Völker der Region und all ihrer Narben zu ebnen.

Buchcover: Stein mit Inschriften vor schwarzem Hintergrund. Darauf der Titel des Buches "History below the global"
Mit seinem neuen Buch „History Below the Global“ will Lorenzo Kamel „einen Beitrag zur Aufklärung über die Kolonialität der Macht in der historischen Forschung leisten“, Foto: Lorenzo Kamel/Routledge.

In Ihrem jüngsten Buch "History Below the Global" schlagen Sie eine integrativere Art des Geschichtsstudiums vor. Wie kann dies erreicht werden?

Kamel: Wenn Wissenschaftler der Herausforderung begegnen wollen, den Bogen der Geschichte weg von Herrschaft und Unterdrückung hin zu menschlicher und ökologischer Gerechtigkeit und Inklusivität zu spannen, dann sollte nicht-europäisches oder nicht-westliches Wissen Teil eines besser informierten und strukturierten Dialogs sein. Und zwar innerhalb als auch außerhalb der akademischen Welt. Obwohl das Buch keinen „modischen antiwestlichen Ansatz“ vertritt oder fördert – eine Behauptung, die selbst zunehmend in Mode kommt –, bietet es eine Reihe von Schlüsselelementen und Analysen: Mit diesen möchte ich die anhaltende Tendenz bekämpfen, diejenigen, die als „unwürdig“ angesehen werden, auszuschließen oder zu vermeiden. Ich will einen Beitrag zur Aufklärung über die Kolonialität der Macht in der historischen Forschung leisten.

Das Interview führte William Billows

© Qantara.de 2024

Lorenzo Kamel ist Professor für Weltgeschichte und Geschichte des Nahen Ostens und Nordafrikas an der Universität Turin. Sein jüngstes Buch ist „History Below the Global“ (Routledge, 2024).