Die Revolution lebt
Nachrichten zu Syrien klingen dieser Tage hoffnungsvoll. Russland zieht den Großteil seiner Truppen ab, in Syrien fallen weniger Bomben, in Genf wird verhandelt und die Revolution geht weiter. Revolution? Ja richtig. Vor fünf Jahren begann kein Bürgerkrieg, sondern der Aufstand der Syrer gegen die Diktatur. Proteste breiteten sich innerhalb von Wochen im ganzen Land aus.
Fünf Jahre und 470.000 Tote später sehen wir das gleiche Bild. Menschen demonstrieren friedlich. Sobald die Bewohner oppositioneller Gebiete weniger bombardiert und besser versorgt werden, malen sie wieder Plakate, schwenken Revolutionsfahnen, singen und tanzen. An mehr als 100 Orten, von Dael im Süden bis Azaz im Norden, finden seit Beginn der Feuerpause Ende Februar Proteste statt.
"Ideen lassen sich nicht töten"
Selbst im Umland von Damaskus, in Orten wie Douma, Jobar, Muadamiye und Daraya, die seit Jahren abgeriegelt sind, im August 2013 mit Giftgas angegriffen wurden, in denen es sonst Fassbomben regnet und Woche für Woche Marktplätze, Krankenhäuser und Schulen bombardiert werden, gehen Tausende auf die Straße. "Die Revolution ist eine Idee und Ideen lassen sich nicht töten", steht auf einem Plakat. "Assad kann die Feuerpause brechen, aber nicht den unbezwingbaren Geist der Revolution" auf einem anderen.
Die internationale Gemeinschaft, die in Syrien nur den Terror des IS, die Bomben Assads und "Flüchtlingsströme" sieht, reibt sich die Augen. Tatsächlich, der zivile Widerstand lebt. Gewöhnliche Bürger – Assads "vom Ausland gesteuerte Terroristen" – fordern noch immer den Sturz des Regimes. Sie demonstrieren nicht für naheliegende Ziele wie etwas zu essen oder baldigen Frieden, sondern für eine politische Vision. Ein "demokratisches Syrien", "Freiheit für alle".
Eine positive Entwicklung in Syrien ist deshalb die Einigkeit der Assad-Gegner. Sämtliche oppositionellen Kräfte – die im Land und die außerhalb, Gemäßigte wie Radikale, Säkulare wie Islamisten, Rebellen und Aktivisten – stimmen überein, dass ein politischer Übergang in Syrien nur ohne Assad und seine Führungsriege funktionieren kann.
Daraus folgt die einzig gute Nachricht für Genf. Weil es inzwischen eine Verbindung gibt zwischen Politikern und Kämpfern, zwischen Diplomatie und Straße, sitzen alle direkt oder indirekt mit an einem der vielen Genfer Tische. Die Gespräche finden folglich nicht mehr wie früher völlig abgekoppelt von der Realität in Syrien statt, sondern haben einen Bezug zur Lage der Menschen vor Ort. Das hat gerade die letzte Runde Anfang Februar gezeigt. Solange Zivilisten gnadenlos bombardiert und ausgehungert werden, kommen Verhandlungen gar nicht zustande. Erst jetzt, nachdem weniger Bomben fallen und etwas mehr humanitäre Hilfe die Hungernden erreicht, kann es überhaupt um Politik gehen.
Aussichtslose Verhandlungen
Die schlechte Nachricht ist, dass die Verhandlungen dennoch so gut wie aussichtslos sind. Denn auf der anderen Seite sitzt eine Regierung, die keinen Grund zum Verhandeln sieht. Die sich jede Einmischung von außen (auch auf Grundlage von UN-Resolutionen) verbittet und sich stets auf das "syrische Volk" beruft, dabei aber den unliebsamen rebellischen Teil dieses Volkes verleugnet, vertreibt und vernichtet.
Damaskus kündigte an, nur mit loyalen Syrern verhandeln zu wollen, also mit Menschen, die Assads "legitime" Macht anerkennen (die er von seinem Vater erbte). Dafür braucht man allerdings nicht nach Genf zu reisen, denn Marionetten finden sich am ehesten in Damaskus. Sie sind nicht zu verwechseln mit der vom Regime geduldeten Inlandsopposition, die als Mitglied des Hohen Verhandlungskomitees (HNC) in Genf vertreten ist und gerade zum Boykott der für April angesetzten Parlamentswahlen aufgerufen hat. Und auch nicht mit der syrischen PKK-Schwester PYD (Partei der Demokratischen Union), die als derzeit mächtigste Vertretung der syrischen Kurden in Genf dabei sein sollte – auch gegen den Willen Ankaras.
Bei den Gesprächen über einen politischen Übergang stehen sich deshalb zwei unvereinbare Positionen gegenüber. Assad strebt eine Regierung der Nationalen Einheit unter seiner Führung an, in die er ein paar zahme Kritiker integriert. Der HNC fordert eine Übergangsregierung mit voller Exekutivgewalt ohne Assad und seine Getreuen. Die Idee des UN-Sondergesandten Staffan de Mistura, das Thema Assad außen vor zu lassen, und erst mal auf Regierungs- und Oppositionsseite nach geeigneten Personen für eine Übergangsregierung zu suchen, scheint kaum umsetzbar.
Was aber passiert, wenn die Gespräche in Genf scheitern? Ist die Feuerpause dann hinfällig? Dazu muss man wissen, warum und in welchem Umfang sich die Beteiligten bislang daran halten. Assad bombardiert weniger, weil Russland es so verlangt. Moskau will zeigen, dass es Einfluss in Damaskus und Interesse an einer Verhandlungslösung hat.
Beide werfen gerade nur so viele Bomben ab, wie für die internationale Gemeinschaft "erträglich". Darunter auf Orte wie Talbiseh in der Provinz Homs und Al-Marj östlich von Damaskus, wo weder der IS noch die Nusra-Front präsent sind. Trotzdem halten auch dort die Rebellen erstaunlich still. Offensichtlich erscheint ihnen der Preis zu hoch, den sie für Vergeltungsaktionen bezahlen würden: flächendeckende Raketen- und Fassbombenangriffe.
Aus Sicht der Bevölkerung wären dann sie für das erneute Massensterben verantwortlich, deshalb lassen sich auch die Islamisten von Jaish al-Islam (Armee des Islam) und Ahrar al-Sham (Freie Männer der Levante) bislang nicht von einzelnen Bomben provozieren. Russlands Teil-Abzug könnte alle Beteiligten zu weiterer Zurückhaltung motivieren.
Putins Exit-Strategie
Hinter Putins Entschluss – vor allem zu diesem Zeitpunkt – stecken eine Einsicht und eine Absicht. Der Kreml-Chef scheint verstanden zu haben, dass sein Syrien-Engagement auf Dauer zu kostspielig ist (laut russischen Experten 2,5 Mio. Dollar täglich) und böse enden wird. Statt Assad mit Hilfe des Irans, der Hisbollah und anderer schiitischer Milizen zum militärischen Sieg zu verhelfen, um dann als alawitisch-schiitisch-christliche Allianz die sunnitische Bevölkerungsmehrheit gegen sich aufzubringen und in einem verlustreichen Krieg zu versinken, setzt er auf eine politische Lösung als Exit-Strategie.
Putin hat das Blatt militärisch zugunsten Assads gewendet, ihm zu einer starken Verhandlungsposition verholfen und sich selbst zum Power Broker aufgeschwungen – damit hat der Kreml-Chef vorerst genug erreicht. Jetzt genügt es, Russlands Marinestützpunkt in Tartous und den Militärflughafen bei Latakia einsatzfähig zu halten.
Und die Absicht? Moskau wird Assad so lange unterstützen bis russische Interessen auch anderweitig garantiert sind. Dann könnte Putin dem syrischen Präsidenten zu einem gesichtswahrenden Abgang verhelfen und sich als Friedensstifter inszenieren. Fest steht: Assads größte Stärke – die Unterstützung Russlands und Irans – ist zugleich seine größte Schwäche. Denn die Bedingungen, die beide Länder stellen, nagen an Assads Machtbasis.
Iran macht sich religiös, politisch, militärisch und gesellschaftlich in Syrien breit und löst dadurch Unmut und Widerstand unter Assads langjährigen Weggefährten aus, die sich zu Vasallen degradiert und verraten fühlen. Und Russland entzieht dem syrischen Regime just in dem Moment die militärische Speerspitze, in dem sich seine Vertreter siegesgewiss mit De Mistura an den Tisch setzen wollten.
Kann der UN-Vermittler die Gunst der Stunde nutzen? Er braucht die konstruktive Mitarbeit aller, auch die Interessen der Nachbarländer müssen bis zu einem gewissen Grad berücksichtigt werden, damit sie einen Deal nicht im Nachhinein vereiteln.
Aber egal auf was sich Amerikaner und Russen einigen – ob zwei, sechs oder 18 Monate mit Assad – viele Syrer werden nicht ruhen bis dieser weg ist. Gegen ihren Willen wird keine politische Lösung das Land befrieden können. Deshalb sollten die Unterhändler in Genf die Sprechchöre dieser Tage im Ohr haben: "Die Revolution geht weiter bis das Regime stürzt."
Kristin Helberg
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