Die barmherzigen Nachbarn der Samariter
Es war am zweiten Tag in unserem neuen Zuhause in Amman: Ich drehe in der Küche den Wasserhahn auf, es kommt ein kleiner Schwall, dann nichts mehr. Freundliche Nachbarn erklären uns, dass wir eine Zisterne haben, die einmal in der Woche von der Stadt gefüllt wird. Ist die Wasserration aufgebraucht, bleibt nur der Privatmarkt. Ein Telefonat und eine gute halbe Stunde später fährt ein Tanklastwagen vor. Der Fahrer und sein Gehilfe ziehen einen Schlauch durch den Garten, lassen fünf Kubikmeter Wasser in die Zisterne laufen und kassieren dafür fünfzig jordanische Dinar. Das sind rund 65 Euro. In Deutschland kostet die gleiche Menge um die zehn Euro.
Jordanien ist eines der wasserärmsten Länder der Welt. Der ehedem mächtige Jordan ist nur noch ein Bach, an der Taufstelle Jesu, wo ich ihn zum ersten Mal sah, ist er gerade noch drei Meter breit. Zu viel Wasser wird seit zu langer Zeit im Norden von anderen Ländern abgepumpt. Und so herrscht in Jordanien, wenn es denn mal regnet, dieselbe Jubelstimmung wie in Deutschland an den ersten sonnig warmen Frühlingstagen.
Der syrische Akzent der Bauarbeiter
Jetzt, mit geschätzten anderthalb Millionen Flüchtlingen im Land, erfolgt die öffentliche Wasserlieferung vielerorts in Jordanien nicht mehr jede Woche, sondern nur noch alle zwei, und wer sich die teuren Wasserlieferungen von privaten Händlern nicht leisten kann, darf eben nur noch die Hälfte verbrauchen – die Hälfte, wohlgemerkt, von einer ohnehin nicht sonderlich großzügig bemessenen Menge.
Von Einheimischen kann man hören, wie schwer das ist, aber was man nicht hört, ist Protest von ihrer Seite gegen die Flüchtlinge, obwohl nur rund ein Fünftel in Aufnahmelagern leben, während die anderen in den jordanischen Städten und Dörfern untergekommen sind, wo deshalb die Mieten unter entsprechendem Druck stehen: Neben dem Wasser ist das für viele Jordanier der zweite elementare Lebensbereich, der durch die Flüchtlingskrise massiv beeinträchtigt wird. Der dritte ist der Arbeitsmarkt: In dessen unterem Segment fallen die Löhne, wovon zwar mancher Unternehmer profitiert, die Mehrheit der Jordanier aber kaum. Die Baubranche boomt in Amman, es gibt kaum einen Straßenblock, in dem nicht irgendwo gebaut wird, Lärm überall in der Stadt. Und natürlich hört jemand, der ein Ohr dafür hat, auf den Baustellen wie auch in den Restaurants den syrischen Akzent der Beschäftigten.
Kein Sprengstoff in der Windel?
Anderthalb Millionen Flüchtlinge in einem Land mit rund sechs Millionen Einwohnern – für Deutschland würde das im Verhältnis die Aufnahme von zwanzig Millionen Flüchtlingen bedeuten. Und Jordanien ist ein ressourcenarmes Entwicklungsland; das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nur ein Viertel des deutschen.
Dass es hier nicht zu Ausschreitungen oder wenigstens Protesten kommt, grenzt an ein Wunder. Ein Wunder allerdings, das in der westlichen Öffentlichkeit wenig Aufmerksamkeit findet. Nicht, dass die Region als solche keine fände. Aber in den Berichten dominiert der Schrecken islamistischen Terrors. Wann immer Säulen fallen und Weltkulturerbe vernichtet wird, schauen alle auf die arabische Halbinsel. Oder nach einem neuen bestialischen Mord von "Daesh" (alias Isis oder Isil oder IS).
Die Fokussierung auf bad news führt zu einem traurig verzerrten Bild der arabischen Region und ihrer dominanten Religion, unter dem alle 1,6 Milliarden weltweiten Anhänger des Islams zu leiden haben. Fast keiner unserer arabischen Freunde in Jordanien, der dazu nicht eine konkrete Geschichte beizutragen hätte: böse Blicke von Mitfliegenden am Flughafen-Gate, Befragungen von Grenzkontrolleuren, und bei der Einreise nach Israel muss dem Baby bitte auch die Windel ausgezogen werden, damit man sicherstellen kann, dass dort kein Sprengstoff steckt.
Ein Zuhause von dauerhafter Natur
Aber in Amman erlebt man täglich ein herrlich buntes ideologisches und religiöses Durcheinander: von Kopftuch tragenden Frauen am Steuer der neuen S-Klasse, die dann vor Supermärkten parken, in denen nahezu alle anderen Kundinnen das Haar offen tragen; von Bankern, die sich den Kopf zerbrechen, ob es nicht vielleicht einen schlechten Eindruck machte, Produkte anzubieten, die der Scharia entsprechen; von improvisierten Gebetsräumen in Büros, in denen die meisten Mitarbeiter Christen sind; von muslimischen Angestellten, die ihrer christlichen Chefin gern jeden Gefallen tun und denen es deshalb peinlich ist, ihr beim Tragen von Weinkisten nun wirklich nicht helfen zu können; von muslimischen Honoratioren schließlich, die wiederum alles über Burgunder wissen.
Auch hier freilich ist die Gesellschaft über die letzten dreißig Jahre hinweg deutlich konservativer geworden. Die tendenziell eher liberale Oberschicht ist darüber betrübt, aber der Umgang mit diesen Umständen (an denen westliche Dämonisierungspolitik und -rhetorik nicht unschuldig sind) ist erfrischend tolerant, wofür man als Angehöriger der christlichen Minorität dankbar ist. In Jordanien praktiziert man konsequent Nächstenliebe, die nicht nur den muslimischen Flüchtlingen aus Syrien, sondern auch den christlichen aus dem Nordirak, die es hierhin geschafft haben, ein neues Zuhause bietet – von dem inzwischen allen klar wird, dass es wahrscheinlich dauerhafter Natur sein wird.
Jordanien ächzt unter der Aufgabe
Eine zentrale Rolle kommt dabei dem haschemitischen Königshaus zu, das es trotz der enormen ökonomischen Probleme einerseits und der externen Bedrohungen durch "Daesh" im Norden und Nordosten Jordaniens andererseits bislang geschafft hat, ein Land zusammenzuhalten, das ohnehin von enormer Diversität geprägt ist und in dem es schon vor der syrischen Krise nicht leicht war, die urjordanischen Stämme erst mit den palästinensischen und später mit den irakischen Flüchtlingen unter einen Hut zu bringen.
Jetzt ist der Tourismus, traditionell einer der wichtigsten Wirtschaftsbereiche des Landes, dem Zusammenbruch nahe. Als wir Richtung Irak fahren, um die zum Unesco-Weltkulturerbe zählenden Wüstenschlösser zu besuchen, verursachen wir genuine Verblüffung, denn es kommen einfach keine Europäer mehr hierher. Dabei ist die Reise durch Jordanien, das eine ungeheure kulturelle Vielfalt zu bieten hat – von der weltweit größten Agglomeration noch aufrecht stehender römischer Säulen in Jerash über die Wunder von Petra bis hin zu den Naturspektakeln von Wadi Rum und dem Taucherparadies Aqaba –, nicht unsicherer als eine Fahrt mit der Londoner U-Bahn. Das liegt am enorm effektiven Militär, das neuralgische Punkte und die Grenzen kontrolliert (und dem Reisenden gegenüber dort, wo er auf Soldaten trifft, trotz schwerer Bewaffnung mit einer Freundlichkeit begegnet, die man sich zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Grenzern gerne wünschen würde).
Jordanien ächzt unter der Aufgabe, mit der die Nachbarstaaten das Land konfrontieren, doch die Welt hilft nur ein bisschen. Zusätzliche Entwicklungshilfe hält sich trotz allen Beteuerungen in Grenzen: Die internationalen Transferzahlungen nach Jordanien haben sich infolge der Flüchtlingskrise um rund eine halbe Milliarde Euro erhöht; pro Flüchtling sind das aber gerade mal etwas mehr als dreihundert Euro. Und während mehr Unterstützung dem Land und damit dem Frieden in der Region zumindest kurzfristig helfen würde, scheint es langfristig noch hilfreicher, wenn der christliche Westen anerkennte, dass die Botschaft von Isa ibn Maryam, den wir Jesus nennen, auf dem Globus augenblicklich nirgendwo so konsequent verfolgt wird wie in Jordanien.
Steffen Huck
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015