Erdoğan will syrische Flüchtlinge loswerden
Streng genommen hat Recep Tayyip Erdoğan keine Drohung ausgesprochen als er in Ankara sagte, die Türkei könne gezwungen sein, "ihre Türen zu öffnen", wenn sie nicht mehr Unterstützung aus Europa bei der Versorgung der Flüchtlinge und der Schaffung einer "Sicherheitszone" in Nordsyrien erhalte.
Hintergrund für Erdoğans Forderung ist der sogenannte Flüchtlingsdeal vom März 2016: Damals hatte die EU der Türkei sechs Milliarden Euro über mehrere Jahre für die Versorgung syrischer Flüchtlinge zugesagt. Laut EU-Kommission sind bereits 2,4 Milliarden ausgezahlt und weitere 3,5 Milliarden Euro vertraglich vergeben worden. In starkem Kontrast zu den polternden Tönen aus Ankara gibt man sich bei der Kommission in Brüssel betont gelassen: "Wir glauben daran, dass wir die Arbeit mit unseren türkischen Partnern in gutem Vertrauen fortsetzen können", heißt es nüchtern in einem schriftlichen Presse-Statement.
Geflüchtete zurück nach Syrien
Auch Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, glaubt nicht daran, dass Erdoğan den Deal wirklich platzen lassen würde. Dazu habe er schlicht zu "wenig bessere Optionen", sagte Brakel. Der Türkei-Experte sieht die wahren Probleme im Umgang mit Geflüchteten in der Türkei an anderer Stelle. In den vergangenen Wochen und Monaten seien die Abschiebungen von Geflüchteten aus der Türkei in deren Heimatländer in die Höhe geschnellt. Im Falle von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien, sagt Brakel, sogar in umkämpfte Gebiete wie Idlib.
In Ankara leugnet man zwar nicht, dass sich inzwischen rund 320.000 in die Türkei geflüchtete Syrer wieder in ihrer Heimat befinden. Allerdings spricht man bei den türkischen Behörden von "freiwilligen Rückkehrern".
Kristian Brakel zieht das in Zweifel. Es gebe eine ganze Reihe glaubhafter Berichte von Menschen, die sich auf Polizeiwachen gemeldet hätten, um dort ihren Aufenthaltsstatus zu verlängern. "Dort wurde ihnen dann ein Schreiben zur Unterschrift vorgelegt, mit dem sie ihre 'freiwillige Ausreise' bestätigen sollten." Unter Androhung von körperlicher Gewalt solle ihnen klar gemacht worden sein, dass ein Widerspruch nicht akzeptiert werden würde. Unter solchen Umständen, so Brakel, könne man "natürlich nicht von freiwilliger Ausreise sprechen."
Türkei mit Sonderrolle in der Flüchtlingspolitik
Ein solcher Umgang mit Geflüchteten überrascht auf den ersten Blick. Wortreich hatten sowohl der türkische Präsident Erdoğan wie auch Mitglieder seiner Regierungspartei AKP immer wieder die Hilfsbereitschaft der türkischen Regierung betont. So sagte die AKP-Politikerin Fatma Sahin, seit 2014 Bürgermeisterin der Stadt Gaziantep an der Grenze zu Syrien, im Herbst 2017 im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Seit Jahren versuchen wir den notleidenden Menschen aus Syrien zu helfen. Das hat hier Tradition, das ist unsere Kultur. Wenn dein Nachbar Hunger leidet, dann solltest du versuchen, deinem Nachbarn zu helfen. Ich bin der Meinung, dass wir mit unserem Verhalten zum Vorbild für die gesamte Welt geworden sind. Wir sind zum Gewissen der Welt geworden."
In der Tat hatte die Türkei vor allem hinsichtlich syrischer Flüchtlinge eine besondere Rolle eingenommen. Mehr als 6,3 Millionen Menschen hatten Syrien verlassen und in den Nachbarländern Zuflucht suchen müssen. Mehr als die Hälfte von ihnen hatte die Türkei aufgenommen.
Weitere Flüchtlingswelle möglich
Die anfängliche Euphorie gegenüber den Neuankömmlingen ist jedoch an vielen Orten dahin. Die jahrelang geduldete Praxis etwa, dass Syrer, die nicht in Istanbul registriert sind, dennoch in der Millionenmetropole leben, wird nicht mehr akzeptiert, die betroffenen Flüchtlinge müssen die Stadt verlassen.
Kristian Brakel sieht die veränderte Rhetorik Erdoğans auch vor dem Hintergrund der verloren gegangenen Wahlen in der Metropole am Bosporus in diesem Sommer: "Gerade in Bezirken, in denen viele Geflüchtete leben, hat die AKP Federn gelassen. Auch wenn diese Bezirke vorher AKP-Hochburgen waren, wurde die Partei dort ganz klar abgestraft." Daran sei auch die angespannte wirtschaftliche Situation schuld. Insgesamt habe die Ablehnung gegenüber Geflüchteten, sei es durch offenen Rassismus oder gar Gewalt, sehr stark zugenommen. Die veränderte Rhetorik ist der klare Versuch, wieder Kontrolle über die Situation zu gewinnen."
Wie schwer das werden dürfte, wird beim Blick auf das Nachbarland Syrien klar. In den vergangenen Wochen sind die Kämpfe um das letzte große Rebellengebiet Idlib, das an die Türkei grenzt, wieder eskaliert. In dem Gebiet leben rund drei Millionen Flüchtlinge. Sollte sich die Lage dort weiter verschärfen, könnten auch diese Menschen versuchen, in die Türkei zu kommen. Die Regierung in Ankara hat schon reagiert und für den kommenden Montag einen Syrien-Gipfel mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem iranischen Präsidenten Hassan Rohani angekündigt.
Daniel Heinrich
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