Gottes Hausbesetzer
Wenn man sich in Palermos lebendigem Bahnhofsviertel am Corso Dei Mille nach dem Missionshaus von Padre Biagio Conte erkundigt, wird man zwar nicht immer eine zuverlässige Wegbeschreibung erhalten, dafür aber eine Vielzahl von Lobhuldigungen und Anekdoten, die sich um den Franziskanerbruder ranken. Tatsächlich sorgt der 46jährige Sohn eines bekannten sizilianischen "Baulöwen" in Palermo wegen seiner ungewöhnlichen Hilfeleistungen für illegale Einwanderer aus Nordafrika bereits seit Jahren über die Landesgrenzen hinweg für große Aufmerksamkeit.
Auf Sizilien kennt man ihn daher heute auch als "Bruder der Armen" oder "Robin Hood der katholischen Kirche". Dabei hätte er ursprünglich das traditionsreiche Familienunternehmen übernehmen sollen. Doch Conte überwirft sich mit seinem Vater, da er nicht gewillt ist, in dessen berufliche Fußstapfen zu treten.
Auf den Spuren von Assisi
Schockiert über die gravierende Armut, die Grundstücksspekulation und die Korruption in Palermo, schwört der wohlhabende Conte jeglichen weltlichen Vergnügen ab und lebt zunächst als Eremit in den Bergen Palermos, bevor er Sizilien Anfang der 90er Jahre schließlich ganz den Rücken kehrt. Sein Ziel: Das Grab des heiligen Franziskus von Assisi zu Fuß zu erreichen und künftig sein Leben den Armen und Entrechteten zu widmen.
Doch aus seiner ursprünglichen Idee, als Missionar nach Afrika oder Indien auszuwandern, wird letztendlich nichts, erzählt der überzeugte Franziskanerbruder: "Ich hatte überhaupt kein Interesse, nach Palermo zurückzukehren, um dort etwas zu erreichen, weil ich wusste, dass die bürokratischen Hindernisse dort zu groß sind. Es war dann aber eine Art göttliche Entscheidung, eine innere Stimme, die mir sagte, es doch in meiner Heimatstadt zu versuchen, da ich dort das Elend der Armen nur zu gut kannte und wusste, wo ich helfen kann."
Hausbesetzung im Dienste der Entwurzelten
Nur mit Essen und Trinken im Gepäck macht er sich auf den Weg in die Armenviertel Palermos, verteilt Brot und Decken an Obdachlose und Entwurzelte und schlägt mit ihnen seinen Quartier am Hauptbahnhof auf, unter freiem Himmel, zwischen Waggons und Güterzügen.
Doch ein Ausweg aus ihrer Misere ist nicht in Sicht. Die Zahl der Ärmsten der Armen Palermos, die tagtäglich von der Hand im Mund rund um den Bahnhof leben müssen, wächst stetig an. Biagio Conte sieht sich zum raschen und unbürokratischen Handeln veranlasst: In einer Nacht und Nebel Aktion besetzt er mit seinen Anhängern 1993 kurzerhand eine heruntergekommene, ehemalige Desinfektionsanstalt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bahnhof und gründet dort seine "Missione di Speranza e Carità".
"Wir sind in einen sechstägigen Hungerstreik getreten, um auf unsere Not aufmerksam zu machen und das Gebäude zu halten", erinnert sich Conte. "Natürlich gab es anfangs Konflikte mit den städtischen Behörden, aber die Polizei hat uns schließlich respektiert, Zuspruch gab es auch vom Kardinal von Palermo und von Seiten der Bevölkerung."
In den darauf folgenden Jahren kann der couragierte "Bruder der Armen" dank tatkräftiger Unterstützung seiner Mitstreiter sowie Spenden aus der Bevölkerung das Gebäude aufwändig sanieren. Sein Projekt findet bei den Palermitanern großen Zuspruch, so dass ihm bereits wenige Jahre später von der Stadt ein weiteres Haus in der nahe gelegenen Via Garibaldi überlassen wird. Dort baut Conte ein Haus für obdachlose und allein erziehende Frauen auf. Tatsächlich hilft der Franziskanerbruder mit seinen freiwilligen Helfern immer da, wo die Not am größten ist und die Stadt Palermo ihren sozialen Verpflichtungen nicht mehr gerecht wird.
Flüchtlingswelle aus Afrika
Doch genau daran droht sein Missionswerk fast zu scheitern: Als Ende der 90er Jahre immer mehr afrikanische Bootsflüchtlinge nach oft wochenlangen, strapazenreichen Irrfahrten auf der Mittelmeerinsel Lampedusa landen, schickten die Behörden die Flüchtlinge nicht selten nach Palermo, bis über deren Einreisebegehren entschieden wurde. Am Hauptbahnhof gebe es doch das Missionswerk "Hoffnung und Nächstenliebe" von Biagio Conte hieß es. Doch Conte's kleine Mission war auf den wachsenden Flüchtlingsstrom aus Afrika kaum vorbereitet.
"Es kamen immer mehr Bootsflüchtlinge von Nordafrika über die Insel Lampedusa nach Sizilien. Wir dachten anfangs nicht, dass dieses Problem uns betreffen würde, obwohl uns das schon sehr nachdenklich gemacht hat", berichtet Conte. "Allerdings dachten wir, dass sich der italienische Staat darum kümmern müsste, da er auch die Aufnahmelager für die Flüchtlinge errichtete. Aber nach ein paar Monaten klopfte es dann unserer Tür, und da standen die vielen Menschen, die aus allen Teilen Afrikas und auch aus dem Irak zu uns kamen. Und uns ist schnell klar geworden, dass diese Flüchtlinge dringend unsere Hilfe brauchen."
So auch Osman Mussa aus Darfur, der wegen des Bürgerkriegs im Sudan zunächst nach Libyen floh und wenig später in einem überfüllten Schlauchboot die italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa erreichte, bevor er in der "Missione di Speranza e Carità" in Palermo aufgenommen wurde. Noch immer gezeichnet vom blutigen Konflikt in Darfur berichtet er: "Im Sudan gibt es so viele Probleme, viel Gewalt – jeder weiß das. Sie zwingen ihre Leute ins Ausland zu fliehen. Ich bin hierher gekommen, um Geld zu verdienen, weil ich eine große Familie im Sudan ernähren muss, und das Geld reicht dort nicht aus."
Besetzung des Luftwaffenstützpunktes
Doch die beiden Missionshäuser sind dem großen Andrang letztlich nicht gewachsen. Waren es anfangs nur 60 Menschen, die ein Dach über dem Kopf erhielten und mit Kleidung und Essen versorgt wurden, drängten sich nun über 200 in überfüllten Zimmern, schliefen in Gängen und unter Treppen. Doch die Bitten des Franziskanerbruders, der Mission erneut ein Gebäude zur Verfügung zu stellen, stoßen bei den städtischen Behörden dieses Mal auf taube Ohren.
So ergreift Conte im Februar 2002 abermals die Eigeninitiative: Zusammen mit freiwilligen Missionshelfern und Flüchtlingen besetzt er den seit über 40 Jahren leer stehenden, Luftwaffenstützpunkt der italienischen Armee in Palermo. Trotz der anfänglichen Proteste der Armee lenkten die Stadt Palermo und die Militärbehörden schließlich ein und überließen dem Franziskanerbruder die Hälfte des Kasernengeländes. Dank des Einsatzes von freiwilligen Helfern aus aller Welt konnten die baufälligen Kasernenbaracken bisher größtenteils restauriert werden.
Vorerst gibt es also ausreichend Platz, um den heute rund 450 überwiegend jungen Flüchtlingen aus Afrika eine vorübergehende Bleibe zu ermöglichen. In den Häusern der "Mission der Hoffnung und Nächstenliebe" befinden sich inzwischen nicht nur Schlaf- und Essenssäle, eine Gesundheitsstation, eine Großküche und eine Sprachschule. Um den jungen Flüchtlingen eine berufliche Ausbildung zu ermöglichen und damit deren Integration zu fördern, gibt es auch missionseigene Töpfer- und Kfz-Werkstätten, Recyclinghöfe und Sprachschulen.
Doch damit nicht genug. Contes Team bietet den Flüchtlingen auch kostenlose Rechtsberatung in Einwanderungsfragen an. "Bis über das Bleiberecht vieler Boat-People aus Afrika, die über Lampedusa hierher kommen, entschieden wird, finden viele von ihnen bei uns Unterschlupf", berichtet der Jurist Dario. "Wir geben den Asylsuchenden Informationen darüber, wie es sich mit der Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen oder dem Flüchtlingsstatus in Italien verhält. Dies wird vom Staat sehr streng gehandhabt. Außerdem prüfen wir jeden einzelnen Flüchtlingsfall und sprechen mit ihnen, um ihre wirklichen Probleme als Asylsuchende zu verstehen."
Mit seiner "Missione di Speranza e Carità" hat sich Biagio Conte einen Lebenstraum im Geist des heiligen Franziskus erfüllt: Hilfe zu leisten für die Obdachlosen und Flüchtlinge in seiner Heimatstadt Palermo. Dabei vertraut er eher auf die Spendenbereitschaft der Bürger Palermos und das soziale Engagement seiner Mitstreiter, als auf die finanzielle Unterstützung von Kirche und Staat.
"Wir wollen nicht von irgendjemandem Vorschriften bekommen, sondern die Initiative selbst in die Hand nehmen. Nur so kann man im Leben auch mehr erreichen", lautet sein Credo.
Arian Fariborz
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