Tunesien akzeptiert „außergewöhnliche Abschiebungen“

Angesichts der Ankunft tausender flüchtender Tunesier in Italien erhöht die dortige Regierung den Druck auf Tunesien und will den Abschiebedeal mit dem kleinen Land ausweiten. Eine tunesische NGO fordert Transparenz. Aus Tunis berichtet Sofian Philip Naceur.

Von Sofian Philip Naceur

Frust und Perspektivlosigkeit sitzen tief in Tunesiens Gesellschaft: Eine immer heftiger werdende Wirtschaftskrise, die soziale Ungleichheit und die Ernüchterung über Tunesiens politische Klasse, die es in den zehn Jahre seit der Revolution von 2011 nicht geschafft hat, die Hoffnungen im Land auf einen echten sozialen Wandel auch nur ansatzweise zu erfüllen.

Die Corona-Pandemie, die den für hunderttausende Menschen so überlebenswichtigen Tourismussektor im Land praktisch kollabieren ließ, ist ein zusätzlicher Katalysator für die soziale Schieflage – und diese hat drastische Folgen. Denn vor allem seit Aufhebung des landesweiten Lockdowns Ende Mai sehen immer mehr Tunesier in der Flucht nach Italien ihre einzige Chance auf eine bessere Zukunft.

Zwar wagen Tunesier schon seit Jahren die riskante Überfahrt von der tunesischen Küste auf die nur wenige Kilometer entfernten italienischen Inseln Lampedusa oder Sizilien. Doch seit Jahresbeginn hat die in Tunesien oft nur „Harga“ (Arabisch für Verbrennen, gemeint ist das Verbrennen der Grenze) genannte Flucht vor der Perspektivlosigkeit zusätzlich massiv an Zugkraft gewonnen. 41,2 Prozent der insgesamt 23.306 seit Januar in Italien angekommener irregulärer Migranten sind tunesische Staatsbürger (Stand 28. September 2020). Im gesamten Jahr 2019 zählten italienische Behörden nur rund 2.600 irreguläre Ankünfte tunesischer Migranten. Tunesien ist damit inzwischen das mit Abstand wichtigste Herkunftsland von in Italien ankommender Geflüchteter.

Tunesien unter Druck

Entsprechend erhöhte die Regierung in Rom schon im Frühjahr massiv den Druck auf Tunesien und forderte die dortigen Behörden wiederholt dazu auf, konsequenter gegen Bootsabfahrten von der tunesischen Küste vorzugehen und eine höhere Abschiebequote zu akzeptieren. Italiens Außenminister Luigi di Maio drohte Tunesien sogar unverhohlen damit, bereits zugesagte Entwicklungshilfegelder in Höhe von 6,5 Millionen Euro einzufrieren, sollte das Land nicht endlich einlenken und in Sachen Migrationskontrolle noch enger kooperieren.

Nordafrikanische Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Italien; Foto: picture-alliance/dpa
Rigorose Abschiebungen statt Aufnahme: Italien und Tunesien hatten sich im September auf eine Verdoppelung der Zahl der Rückführungen nach Tunesien geeinigt. Bis zu 600 tunesische Migranten soll das nordafrikanische Land pro Monat zurücknehmen, so die italienische Innenministerin Luciana Lamorgese. Hintergrund ist der starke Anstieg der Zahl der Flüchtlingsboote aus Tunesien mit einem hohen Anteil tunesischer Migranten, die in den vergangenen Wochen Lampedusa erreichten. Die italienische Insel liegt im südlichen Mittelmeer vor der tunesischen Küste. Seit Jahresbeginn erreichten laut Innenministerium 21.000 Bootsflüchtlinge Italien, darunter 9.000 Tunesier.

Dabei fing die tunesische Küstenwache dieses Jahr so viele Migrantenboote ab wie niemals zuvor. Zwischen Januar und August hinderte sie 8.516 Menschen (7.890 davon waren tunesische Staatsbürger) daran, nach Italien überzusetzen. In den ersten acht Monaten 2018 waren es 3.534 und im selben Zeitraum 2019 sogar nur 2.338, heißt es in einer Erklärung der tunesischen Menschenrechtsorganisation FTDES (Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte), die die Stellungnahmen tunesischer Behörden auswertet und monatliche Statistiken zur irregulären Auswanderung erstellt.

Grünes Licht für „außergewöhnliche Rückführungen“

Dennoch: Der Druck aus Rom zeigt Wirkung. Wie die italienischen Tageszeitungen La Repubblica und Il Foglio Ende September berichteten, soll die seit 2011 geltende Abschiebevereinbarung zwischen Italien und Tunesien ausgeweitet werden – zumindest vorläufig. Der erst im September vereidigte neue Premierminister Tunesiens Hishem Mechichi einigte sich nach Informationen beider Blätter – damals noch in der Funktion des Innenministers – mit Italiens Innenministerin Luciana Lamorgese während ihrer beiden Besuche in Tunis im Juli und August 2020 darauf, ab Oktober „außergewöhnliche Rückführungen“ von in Italien irregulär angekommener tunesischer Migranten durchzuführen.

Bisher durfte Italien auf Grundlage einer Vereinbarung von 2011 bis zu 80 tunesische Migranten pro Woche in zwei Flügen von Palermo auf Sizilien nach Enfidha in Nordtunesien abschieben. La Repubblica spricht davon, dass künftig bis zu 600 solcher Rückführungen pro Monat stattfinden könnten. Damit könnte Italien fast doppelt so viele Tunesier pro Monat abschieben wie bisher.

Die konkreten Details der neuen Absprache sind jedoch weiterhin nicht bekannt. Weder das tunesische Außenministerium noch die italienische Botschaft in Tunis reagierten auf Anfragen, zu den Berichten Stellung zu nehmen. Eine offizielle Bestätigung der neuen Vereinbarung lässt weiter auf sich warten. Entsprechend unklar bleibt, wie viele Menschen im Rahmen dieser „außergewöhnlichen Rückführungen“ wirklich abgeschoben werden dürfen, aber auch, wie lange die neue Vereinbarung gelten soll.

Ob der genaue Inhalt der Absprache je öffentlich gemacht wird, darf derweil bezweifelt werden. Denn schon die 2011 geschlossene Abmachung zur Migrationskooperation, in dessen Rahmen sich Italien und Tunesien auf zusätzliche Ausrüstungslieferungen und Trainings zugunsten tunesischer Sicherheitsbehörden sowie erstmals auf eine konkrete wöchentliche Abschiebequote einigten, ist bis heute unter Verschluss – auch da der Deal von 2011 kein formales bilaterales Abkommen, sondern nur eine „mündliche Vereinbarung“ ist, die keinerlei parlamentarischer Kontrolle unterliegt.

Tunesische NGO fordert Transparenz

Genau diese Intransparenz der migrationspolitischen Kooperation zwischen Rom und Tunis sorgte bereits in der Vergangenheit regelmäßig für Unmut in Tunesiens Zivilgesellschaft – so auch nach der jüngsten Veröffentlichung der Berichte über zusätzliche Abschiebungen. Das FTDES kritisierte letzte Woche in einer Erklärung die Intransparenz des Verhandlungsprozesses rund um die neue Abschiebevereinbarung und forderte Tunesiens Parlament dazu auf, die tunesische Regierung für ihre Migrationskooperation mit der EU und Italien zur Rechenschaft zu ziehen.

Die NGO zeigt sich zudem entrüstet über Äußerungen von Tunesiens Außenminister Othman Jerandi, der Ende September bestritten hatte, Italien habe in Sachen Migrationskooperation Druck auf Tunesien ausgeübt. Es gäbe keine „erzwungenen Abschiebungen“ tunesischer Migranten aus Italien, Abschiebungen erfolgen in Übereinstimmung mit den zwischen beiden Staaten geschlossenen Abmachungen, so der Diplomat gegenüber dem tunesischen Radiosender Mosaique FM. FTDES-Sprecher Romdhane Ben Amor zufolge zeige das vor allem eines: „Tunesien hat seine Politik nicht geändert, obwohl Staatspräsident Kaïs Saïed eine andere Migrationspolitik versprochen hat. Wir haben gehofft, unter seiner Führung würde sich etwas bewegen“, so Ben Amor gegenüber Qantara.de.

In der Tat hat der erst seit Ende 2019 amtierende Saïed in Sachen irregulärer Migration bisher eine Rhetorik gepflegt, die Hoffnungen auf eine selbstbewusstere tunesische Außenpolitik gemacht hat. Den reinen sicherheitspolitischen Ansatz im Umgang mit der irregulären Auswanderung hatte er mehrfach explizit abgelehnt und darauf gepocht, endlich die Motive für die irreguläre Migration zu bekämpfen und Jobs und Entwicklungsperspektiven zu schaffen. Die neue Abschiebevereinbarung zwischen Rom und Tunis, die abermals unter Ausschluss der Öffentlichkeit und des Parlaments in Tunis durchgewunken wurde, sorgt auch deshalb für Ernüchterung in Tunesiens Zivilgesellschaft.

Sofian Philip Naceur

© Qantara.de 2020