Der Totengräber von Zarzis
Chemseddine Marzoug packt noch schnell zwei Flaschen Wasser ein, bevor er an der Ausfallstraße Richtung Süden in einen holprigen Feldweg einbiegt, der sich mehrere hundert Meter durch einen Olivenhain und brachliegende Felder zieht. Am Rande einer ehemaligen Müllhalde ragt ein Schild hervor: "Friedhof der Unbekannten" steht in einem halben Dutzend Sprachen dort geschrieben.
Mehr als 350 Leichen hat er in den letzten zehn Jahren begraben. Dieses Jahr waren es schon 74. Und Marzoug fürchtet, dass es noch mehr werden. "Im Winter, wenn der Ostwind einsetzt, dann werden immer besonders viele Tote im Golf von Zarzis angeschwemmt."
Rund 50 Kilometer liegen zwischen der Kleinstadt an der tunesischen Südküste und der Grenze zu Libyen. Von dort legen regelmäßig Flüchtlingsboote ab, um nach Europa zu gelangen. Und regelmäßig geraten die Todesschiffe, wie Marzoug sie nennt, in Seenot, sinken oder kentern. Wenn die Passagiere Glück haben, werden sie von Booten von Nichtregierungsorganisationen oder der Marine einer der Anrainerstaaten gerettet. "Wenn nicht, dann kommen sie zu mir."
Jedes Grab hat eine Geschichte
Der 52-Jährige mit den grau-melierten Haaren stapft zwischen den anonymen Gräbern lang. Immer wieder bleibt er nachdenklich stehen, bückt sich, um mit dem mitgebrachten Wasser die Blumen zu gießen, die er auf die bloßen Erdhügel gepflanzt hat. Auch zwei Kinder hat er hier bestattet, auf ihren Gräbern liegen Legosteine und Spielzeugautos. Zu jedem Grab gibt es eine Geschichte, auch wenn der Ehrenamtliche des tunesischen Roten Halbmonds die Namen und die Herkunft der Verstorbenen nicht kennt.
Nur an einem der Erdhügel in der Ecke steht statt einem Metallschild mit Nummer ein kleiner Grabstein. "Das hier ist Rose-Marie, eine 28-jährige Lehrerin aus Nigeria." Sie sei im Frühjahr während der Überfahrt gestorben, die überlebenden 126 Flüchtlinge wurden von der tunesischen Küstenwache an Land geholt. "Ihr Lebensgefährte lebt hier im Flüchtlingszentrum. Er war vorgestern hier und hat Blumen mitgebracht", erzählt der Totengräber.
Würde und Respekt
Früher hat Chemseddine Marzoug als Fischer gearbeitet. Seit den späten 1990er Jahren hatten er und seine Kollegen immer wieder Leichen oder Körperteile in den Netzen. Marzoug übernahm damals die Koordination mit den Behörden und bestattete die Toten auf dem Friedhof der Kleinstadt. Doch mit der Zeit wurden es immer mehr. "Die Leute haben sich beklagt, dass der Friedhof zu voll sei. Seit wir dort Ausländer bestatten würden, gäbe es keinen Platz mehr für die Anwohner."
Die Stadtverwaltung hatte dem Roten Halbmond dann das Stückchen Brachland am Stadtrand zugewiesen, umgeben von Müll, den die Anwohner dort abgeladen hatten. Seitdem bestattet Marzoug dort die Unbekannten.
"Diese Leute werden in ihren Herkunftsländern und in Libyen unterdrückt, sterben teilweise in der Wüste oder nehmen die Todesschiffe." Wenigstens im Tod solle ihnen ein bisschen Würde und Respekt gezollt werden, ist er überzeugt.
Seine Aufgabe sei nicht immer leicht, sagt Marzoug. Oft bestattet er nur Körperteile oder schon stark verweste Leichen, die lange im Wasser lagen. Doch er habe darin seine Aufgabe gefunden, denn schließlich seien vor dem Tod alle gleich, unabhängig ihrer Herkunft oder Religion. "Wenn wir uns nicht den letzten Rest Humanität bewahren, dann haben wir hier bald einen Dritten Weltkrieg vor uns."
"Manche haben mich für verrückt erklärt"
Zwei, drei Mal die Woche kommt er zum Grabfeld um nachzusehen, ob dort alles in Ordnung ist. "Manche haben mich schon für verrückt erklärt", sagt er mit einem Schulterzucken und wandelt weiter von Grab zu Grab. Immer wieder reibt er sich den Rücken. Die vielen Toten dieses Jahres machen ihm auch körperlich zu schaffen.
Schuld an dem Unglück dieser Menschen, da nimmt Marzoug kein Blatt vor den Mund, sei Europa und seine Grenzpolitik. Statt in Afrika zu investieren und Visumserleichterungen zu ermöglichen, würden die Menschen dazu gezwungen, Boote zu nehmen. Auch zwei Söhne Marzougs haben die Fahrt über das Meer nach Europa riskiert.
"Vielleicht haben die Toten sie ja vor dem Tod bewahrt", sagt er, der eigentlich immer gegen diesen Schritt war. "Sie haben sich seit der Revolution sieben Jahre in Geduld geübt - ohne Arbeit und ohne Perspektive." Heute verstehe er ihre Entscheidung ein wenig besser, denn die jungen Leute in Tunesien seien de facto auch wie tot. "So sterben sie in Würde auf dem Meer - oder schaffen es nach Europa, wo es zumindest Demokratie gibt."
Ein weiteres Grab ist schon ausgehoben, es wird das letzte auf dieser Fläche sein, dann gibt es keinen Platz mehr. Da der Rote Halbmond vom Staat keine Unterstützung erhält, sammelt die Organisation nun Spenden, um ein neues Friedhofsgelände zu kaufen und einen Leichenwagen anzuschaffen, damit die Toten nicht mehr auf einem Pick-up transportiert werden müssen.
Wenn sie bei diesem Vorhaben keiner unterstütze, dann "sammeln wir in Zukunft eben Holz, verbrennen die Leichen, füllen die Asche in Behälter und werfen sie wieder ins Meer zurück." Das sei die einzige Lösung, wenn den Toten an Land keiner mehr Respekt zolle. Denn vorbei sei das Sterben auf dem Mittelmeer noch lange nicht, so Marzoug.
Sarah Mersch
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