Bei Vergewaltigung Mord
Ob ein Staat demokratisch ist oder nicht, ist auch daran zu messen, wie es um die Rechte der Frauen steht und um ihren Status in der Gesellschaft. Zu diesen Rechten gehöre auch die Möglichkeit, dass Frauen an ihrem Arbeitsplatz und an den Universitäten ein Kopftuch tragen dürften. Dieses Recht, dass die türkische Gesetzgebung ausschließt, wird von dem türkischen Menschenrechtsverein IHD eingefordert.
Aber es ist nicht nur der türkische Staat, der von einer kämpferischen Reyhan Yalcindag aus Diyarbarkir kritisiert wird, sondern auch die kurdische Gesellschaft, der sie entstammt. Diese sei rückständig und von einem archaischen Ehrgefühl geprägt, das die Gewalt gegen Frauen begünstige:
"Es gibt viele Arten von Gewalt gegen Frauen in der Türkei: psychologische, physische, sexuelle Gewalt. Aber hauptsächlich sind wir besorgt wegen der Gewalt gegen das Recht der Frauen auf Leben. Von staatlicher Seite sind es alle möglichen Formen der Gewalt, die gegen Frauen angewendet werden, so etwa physische und sexuelle Übergriffe im Gefängnis. Gewalt gegen Frauen wird aber auch innerhalb der Familie ausgeübt."
Gewalt gegen Frauen in der Familie
Bei häuslicher Gewalt werden Frauen sogar zweimal zu Opfern. Als Rechtsanwältin hat Reyhan Yalcindag sehr oft mit Mädchen oder Frauen zu tun, die vergewaltigt werden - meistens von einem Verwandten. Wenn die Vergewaltigung bekannt wird, werden die betroffenen Mädchen und Frauen im Namen der Ehre von einem Familienmitglied ermordet. In der islamisch geprägten Gesellschaft der südöstlichen Türkei zählt die Frau wenig, die Familie dafür umso mehr. Dass es in den Gefängnissen zu sexuellen Übergriffen an Frauen kommt, ausgeführt von Mitgliedern der Sicherheitsorgane, ist keine zufällige Eskalation sondern genauestens kalkuliert.
"Das ist eine Vorgehensweise, um die Frauen von ihren politischen Aktivitäten und ihrem Einsatz für Menschenrechte abzuhalten, aber auch, um sie von ihren Forderungen im gesellschaftlichen Leben abzubringen", so Reyhan Yalcindag. "Während des bewaffneten Konflikts im Südosten der Türkei wurden Frauen in den Gefängnissen vergewaltigt. Das war eine direkte Botschaft an die Gesellschaft. Aber auch an die Frauen selbst. Denn damit wollte man ihnen die Möglichkeit nehmen, sich nach der Freilassung wieder in die Gesellschaft zu integrieren."
Vor allem Kurdinnen sind Opfer in Gefängnissen
Wenn hier vor allem von kurdischen Frauen die Rede ist, dann deshalb, weil gerade sie die Opfer sind: 95% der Frauen, die in den letzten drei Jahren in türkischen Gefängnissen sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren, sind Kurdinnen. Nun will aber die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden und muss deshalb zumindest die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllen. Die Regierung Erdogan bemüht sich, eine große Anzahl von Gesetzen wurde beschlossen: die Todesstrafe ist verboten, ebenso die Folter. Reyhan Yalcindag, die sich für den EU-Beitritt des Landes ausspricht, sieht in den Änderungen aber noch keinen Wandel:
"Der wichtigste Punkt ist, den Wandel in der Mentalität herbeizuführen, im Alltag des türkischen Staates. Weil der türkische Staat ein Militärstaat ist, ein nicht-demokratischer Staat, ein Staat der z.B. seine eigenen Bürger nicht respektiert. Er erkennt unsere verschiedenen Minderheiten nicht an, er erkennt z.B. nicht das Recht auf kulturelle Identität der Kurden an."
Weiterhin Folter trotz neuer Gesetze
Es könne aber nicht darum gehen, sich durch Änderung anzupassen, sondern es gehe darum, zu einer neuen und demokratischen Verfassung zu gelangen und sie zugleich sorgfältig in die Praxis umzusetzen. Dies, so wirft Reyhan Yalcindag der Regierung vor, sei noch nicht der Fall. Trotz der Null-Toleranz-Politik der Regierung gegen Folter und sexuelle Übergriffe gegenüber Frauen - alles findet auch weiterhin statt. Verhaftete werden gar nicht ins Gefängnis gebracht, sondern in leer stehende Gebäude verfrachtet und dort gefoltert.
Angesprochen auf den Menschenrechtsverein IHD, dessen stellvertretende Vorsitzende sie ist, zieht Reyhan Yalcindag den Vergleich zu der Zeit vor der Regierung Erdogan:
"Vierzehn Mitglieder meiner Organisation sind in der Zeit des bewaffneten Konflikts im Südosten des Landes ermordet worden. Jetzt sind wir mit juristischen Übergriffen konfrontiert. So muss sich allein meine Organisationen mit 500 Verfahren auseinander setzen: wegen Kritik an den Übergriffen, wegen der Presseerklärungen, wegen unserem Bericht und so weiter. Aber wenn man es mit der Vergangenheit vergleicht, ist unsere Arbeit trotzdem leichter geworden."
Panagiotis Kouparanis
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