Kampagne deckt auf, wie Vergewaltigungsopfer selbst zu Beschuldigten werden

Das "Resource Center for Gender Equality" (ABAAD) hat seit seiner Gründung im Jahr 2011 mutig und kreativ zugleich neue Ansätze zur Thematisierung geschlechtsspezifischer Gewalt und zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter getestet, die als grundlegende Voraussetzung für nachhaltige soziale und wirtschaftliche Entwicklung in der Region Nahost und Nordafrika gilt.

ABAAD ist eine der wichtigsten Organisationen im Kampf um Gleichberechtigung in der Region und setzt sich für eine Politik und Gesetzgebung ein, die Frauen eine effektive Teilhabe ermöglicht. Als Teil ihres ganzheitlichen und rechteorientierten Ansatzes geht ABAAD entschlossen gegen die Grundursachen von Ungleichheit und Gewalt vor, wie geschlechtsspezifische Gesellschaftsnormen.

Im Jahr 2017 konnte das engagierte Team um ABAAD, bestehend aus Aktivisten, Anwälten, Beratern, Sozialarbeitern und Forschern, einen historischen Erfolg für die Frauen Libanons feiern, als das Parlament Artikel 522 des Strafgesetzbuches abschaffte – das berüchtigte "Vergewaltigungsgesetz", demzufolge ein Vergewaltiger der Strafverfolgung entgehen konnte, wenn er das Opfer heiratete. Diese Errungenschaft war einer Mehrzahl einheimischer Initiativen zu verdanken, so auch der von ABAAD geführten Kampagne "A White Dress Doesn’t Cover The Rape – #Abolish_522" (Ein weißes Kleid kann Vergewaltigung nicht vertuschen – #522_Abschaffen).

Verurteile den Vergewaltiger, nicht das Opfer!

Den Erfolg vorangegangener Initiativen nahm ABAAD zum Anlass, sich noch stärker des Themas Vergewaltigung im Libanon anzunehmen. 2018 starteten sie die landesweite Kampagne "Shame on Who?" (Schande über wen?), in dessen Rahmen sie die Strafverfolgung von Vergewaltigern forderten und um Unterstützung der Öffentlichkeit für die Opfer warben. Die Kampagne begann während der Aktion "16 Days of Activism against GBV" (16 Tage Aktivismus gegen geschlechtsspezifische Gewalt) mit einem sozialen Experiment in mehreren Teilen Libanons.

Dieses Experiment spiegelte die vorurteilbehaftete Haltung und Ignoranz der libanesischen Gesellschaft gegenüber Vergewaltigungsopfern wider und zeigte, dass die meisten Menschen ein Opfer eher beschuldigen und demütigten als ihm zu helfen.

Dementsprechend lautete der Aufruf der Kampagne: "Judge the Rapist. Not the Victim!" ("Verurteile den Vergewaltiger, nicht das Opfer!"). In einer Pressemitteilung schrieben die ABAAD-Aktivistinnen: "Solche Reaktionen haben verheerende Auswirkungen auf das psychische und soziale Wohl des Opfers und fördern eine 'Kultur des Verschweigens und Vertuschens'. Um dieses Problem zu überwinden brauchen wir in unserer Gesellschaft ein stärkeres Bewusstsein dafür, dass Opfer unterstützt, Gerechtigkeit eingefordert und Täter abschreckend hart bestraft werden müssen."

Gegen Demütigung und Stigmatisierung der Opfer

"Der Zweck dieser Kampagne", erklärt Ghida Anani, Gründerin und Direktorin von ABAAD, "liegt darin, die Einführung härterer Strafen und schnellerer Gerichtsverfahren für Sexualstraftäter, besonders in Fällen sexueller Gewalt und Vergewaltigung, zu bewirken und gesellschaftliche Wahrnehmungen zu verändern, die dazu führen, dass Frauen als Vergewaltigungsopfer noch immer stigmatisiert, gedemütigt und zum Schweigen über das Verbrechen gebracht werden. Mit der Kampagne wollen wir die öffentliche Meinung stärken, die das Opfer unterstützt und Vergewaltigungen als Verbrechen verurteilt. Wir möchten Frauen und Mädchen, die Opfer von Vergewaltigungen geworden sind, dringend dazu anhalten, ihre Rechte einzufordern, indem sie ihre Stimmen erheben, Vergewaltiger und Straftäter melden und Vergeltung und Strafverfolgung verlangen."

Um die öffentliche Meinung der libanesischen Gesellschaft zum Thema Vergewaltigung zu ändern, haben sich ABAAD auch der Straßenkunst bedient. In einer Aktion wurden die Gesichter von Männern, denen Vergewaltigung vorgeworfen wurde, an zahlreichen Mauern in Beirut abgebildet, manchmal begleitet von Tonaufnahmen, auf denen die Opfer ihre Erfahrungen schilderten.

Kampagnenerfolge

An anderer Stelle gab es interaktive Nacherzählungen der Geschichten realer Opfer sexueller Gewalt durch Schauspielerinnen. Und beim "Internationalen Marathon" in Beirut performten ABAAD-Aktivisten außerdem einen Stunt, bei dem sie und andere Frauen nicht "wegliefen", sondern ihr Schweigen zu brachen und ihre Vergewaltiger sowie alle gesellschaftlichen Argumente ihrer Verteidigung öffentlich hervorbrachten.

Durch die starke Präsenz vor Ort und in den Medien konnte die Kampagne bis zu 72 Millionen Menschen erreichen. Eines ihrer wichtigsten Ziele wurde dabei schon erreicht, denn sie ermutigte sehr viel mehr Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt überlebt haben, über ihren Fall zu sprechen und Hilfe zu suchen.

Seit dem Beginn der Kampagne am 6. November bis zu ihrem Ende im Dezember 2018 haben 205 Frauen und Mädchen die ABAAD-Beratungsnummern angerufen, um Unterstützung zu erhalten, nachdem sie sexuelle Übergriffe gemeldet hatten.

Die #ShameOnWho-Kampagne hat auf nationaler und internationaler Ebene großes Interesse geweckt und war auch in den Medien präsent. Der Sender CNN strahlte am 20. Januar einen Bericht über die Kampagne aus und zeigte insbesondere auch Video-Ausschnitte des schockierenden sozialen Experiments, mit dem die Kampagne im November 2018 begonnen hatte. Auch machte der Bericht auf die Bemühungen der Frauenrechtsorganisation aufmerksam, die für Sexualstraftaten relevante Gesetzgebung zu reformieren und eine Kultur zu fördern, die die Opfer unterstützt und nicht verurteilt.

Narod Haroutunian

© Goethe-Institut e. V./Perspektiven

Narod Haroutunian ist Koordinatorin für Public Affairs am ABBAD – Resource Center for Gender Equality. ABAAD – Resource Center for Gender Equality ist eine von UN ECOSOC anerkannte Organisation, die für die Gleichberechtigung der Geschlechter als Grundbedingung für nachhaltige soziale und wirtschaftliche Entwicklung in der MENA-Region kämpft. ABAAD bildet seit 2012 gemeinsam mit dem libanesischen Ministerium für Soziale Angelegenheiten den Vorsitz der Nationalen Taskforce zur Eliminierung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen.