"Das Buch hat Brücken gebaut"

Vor zwei Jahrzehnten erschien Günter Wallraffs Buch "Ganz Unten": Die Erlebnisse des Autors, der sich als türkischer Arbeiter verkleidet hatte. Hat sich seiner Meinung nach seither in Deutschland etwas verändert?

Von Baha Güngör

20 Jahre ist es her, dass der Journalist und Schriftsteller Günter Wallraff, mit seinem Buch "Ganz unten" für Aufsehen sorgte, in dem er die Geschichte des Türken Ali Levent erzählte. Und Ali Levent war kein geringerer als Wallraff persönlich, der sich zwei Jahre lang unerkannt verkleidet als türkischer Gastarbeiter durchschlägt.

Wallraff hat einmal gesagt, dass er mit seinem Buch "Ganz unten" sich selbst eine Maske aufgesetzt und somit der Gesellschaft die Maske vom Gesicht gerissen habe. Aber warum trug diese Gesellschaft die Maske? Was verbarg sich dahinter?

Das meistverkaufte Buch

Diese Fragen beantwortete Wallraff in "Ganz unten". Nachdem er das, was er als türkischer Gastarbeiter Ali Levent erlebte, niedergeschrieben hat, geht es wie ein Ruck durch die deutsche Gesellschaft.

"Ganz unten" war damals das meistverkaufte Buch in Nachkriegsdeutschland. Es war das erste Mal, dass die Deutschen mitbekamen, dass die dunkelhaarigen, dunkelhäutigen Männer aus Anatolien Menschen waren.

"Das Buch hat Brücken gebaut, es hat Verständnis hervorgerufen, es hat sogar so etwas wie ein Gewissen hervorgerufen", sagt Wallraff. "Seitdem sprach man verstärkt von modernem Sklavenhandel, und das Mitgefühl galt den Opfern. Und die Großverdiener, die Menschenhändler, kamen stärker ins Visier."

Wichtiges Nachschlagewerk

Nicht nur in Deutschland wurde "Ganz unten" gelesen. Auch in der Türkei wurde viel über das Buch diskutiert. Es ist bis heute ein "Nachschlagewerk", wenn es um Arbeiter- und Migrantenprobleme geht, meint der türkische Journalist Asim Gürsoy.

Er erinnert sich gut an den Schock, den "Ganz unten" vor zwei Jahrzehnten auslöste: "Es schlug wie ein Blitz ein. Es brachte die Situation der Migranten, insbesondere der türkischen Migranten, ans Licht."

Bis heute sei das Buch in der Türkei nicht vergessen. "Ich finde, dass 'Ganz unten' ein wichtiges Nachschlagewerk der Geschichte der Immigration ist", sagt Gürsoy. "Alle türkischen und deutschen Jugendlichen sollten es lesen."

Ist Günter Wallraff der Ansicht, dass sich an den beschriebenen Missständen etwas geändert hat? "Ich glaube, dass es gesamtgesellschaftlich schon eine Milderung der Entfremdung hervorrief. Insgesamt muss man leider sagen, dass aufgrund der Globalisierung und der Rücknahme vieler Sozialleistungen sich die Lage inzwischen eher verschlimmert hat", sagt der Autor heute.

An die Stelle der türkischen Gastarbeiter seien heute so genannte Ostarbeiter gerückt: Rumänen, Polen, Russen. Und Langzeitarbeitslose. "Und wo wir als türkische Arbeiter noch sechs bis acht Mark in der Stunde bekamen, da machen das heute schon welche für zwei Euro."

"Immer nur die negativen Seiten"

Wallraff ist nicht zufrieden mit dem Punkt, an dem die deutsche Gesellschaft in der Diskussion um Ausländerhass, Rassismus und Diskriminierung angekommen ist. Deutschland habe es in den zwanzig Jahren bis heute nicht geschafft, die Immigration und Integrationsprobleme zu lösen.

"Es werden nur immer die negativen Seiten, die Probleme, in den Vordergrund gestellt", meint Wallraff. Aber auch für diese trage die deutsche Gesellschaft Verantwortung, weil sie die Arbeitskräfte gebraucht und nicht die notwendige Integration berücksichtigt habe. "Das hat die Gesellschaft versäumt, als sie hier ankamen."

Die deutsche Gesellschaft müsse sich von ihren Vorurteilen befreien. "Ich befürchte, dass die Mehrheit der deutschen Gesellschaft sich immer noch nicht bewusst ist, dass sie durch die Einwanderung Vorteile haben. Auch die Konservativsten müssten es langsam kapieren, dass diese Gesellschaft zum Aussterben verurteilt ist, weil sie eben kinderfeindlich und nicht aufnahmebereit ist und sich selber als was Besseres dünkt."

Tuncay Yildirim, Baha Güngör

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2005

Qantara.de

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