Hat die Zweistaatenlösung eine Zukunft?

Die Zweistaatenlösung als Ausweg aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt ist von der internationalen Agenda praktisch verschwunden. Doch es gibt Menschen, die immer noch hartnäckig an diesem Weg zum Frieden zwischen Israelis und Palästinensern arbeiten. Noam Yatsiv sprach mit Gadi Baltiansky von der Friedensorganisation Genfer Initiative.

Von Noam Yatsiv

Hochrangige Unterhändler legten im Jahr 2003 in Genf einen detaillierten Entwurf für eine Zweistaatenlösung zwischen Israel und der PLO vor. Die in Tel Aviv beheimatete Friedensorganisation Genfer Initiative und die in Ramallah ansässige Palästinensische Friedensallianz machen sich auch heute weiter für diese Lösung stark. Man darf annehmen, dass beide Nichtegierungsorganisationen (NGOs) niemals vorhatten, so lange zu dem Thema zu arbeiten. Zahlreiche Gesprächsrunden zwischen Israelis und Palästinensern sind bereits gescheitert. Die Verhandlungen stehen seit acht Jahren still und eine Wiederaufnahme der Gespräche ist nicht in Sicht.

Die Lage vor Ort hat sich jedoch verändert: Im Jahr 2005 hat Israel einseitig alle Siedler aus dem damals besetzten Gazastreifen abgezogen. Zwei Jahre später hat die Hamas der Palästinensischen Autonomiebehörde die Kontrolle über Gaza entrissen. Die politische Spaltung der rivalisierenden Palästinenser-Fraktionen besteht bis heute. Gleichzeitig werden im gesamten Westjordanland ständig neue israelische Siedlungen gegründet und es ist Vereinigungen von Siedlern gelungen, auch in mehreren Vierteln von Ostjerusalem Fuß zu fassen. Auf dem Jerusalemer Tempelberg untergraben radikale Kräfte langsam aber beständig den zerbrechlichen Status quo.

Noch vor einem Jahrzehnt bezeichnte Gadi Baltiansky, Leiter der Genfer Initiative, die Siedlungen als ein "zu überwindendes Hindernis“. Die einzige Möglichkeit, die Zukunft vorherzusagen, sei es, diese zu gestalten, so Baltiansky. Während alle wichtigen Akteure aus der internationalen Gemeinschaft die Zweistaatenlösung nach wie vor unterstützen, sehen viele Aktivisten und Vordenker sie mittlerweile als kaum noch umsetzbar und setzen auf alternative Modelle.

Ist ein Rückzug der Siedler denkbar?

Herr Baltiansky, in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Siedler im Westjordanland von 325.000 auf 500.000 angestiegen. Es scheint die von Ihnen beschworene Gestaltung der Zukunft ist fehlgeschlagen. Halten Sie es immer noch für möglich, dass sich die Siedler wieder zurückziehen?

Gadi Baltiansky: Jedes vernünftige Abkommen, das sich an den Grenzen von 1967 orientiert, wird einen Landtausch im Verhältnis Eins zu Eins vorsehen, bei dem mindestens 80 Prozent der Siedlungen in den Staat Israel eingegliedert werden. Die Umsiedlung der übrigen Siedler dürfte nicht einfach, aber machbar sein. Dafür gibt es in der Geschichte durchaus Vorbilder. Für die ideologischen Hardliner unter den Siedlern ist der Boden heiliger als der Staat. Doch die reale Macht dieser Leute ist viel geringer als wahrgenommen. Die große Mehrheit der Israelis empfand den Abzug aus dem Gazastreifen damals definitiv nicht als nationales Trauma. Heute spricht niemand – selbst die Rechten nicht – von einer Rückkehr der Siedler in den Gazastreifen.

Symbolisches Bild für israelische Siedlungen in der West Bank (F1oto: picture-alliance)
Stellen die Siedlungen ein "überwindbares“ Hindernis dar? "Jedes vernünftige Abkommen, das sich an den Grenzen von 1967 orientiert, wird einen Landtausch im Verhältnis 1 zu 1 vorsehen, bei dem mindestens 80 Prozent der Siedlungen dem Staat Israel eingegliedert werden. Der Abzug der übrigen Siedler dürfte nicht einfach, aber machbar sein, so Gadi Baltiansky, Leiter der Friedensorganisation Genfer Initiative. "Für die ideologischen Hardliner unter den Siedlern ist der Boden heiliger als der Staat. Doch die tatsächliche Macht dieser Leute ist viel geringer als wahrgenommen. Letztlich würden vergleichsweise wenige Siedler gewaltsamen Widerstand leisten. Sollten sich neun Millionen Israelis von ungefähr 10.000 Siedlern die Zukunft diktieren lassen?“

Dennoch haben wir es mittlerweile mit ganz anderen Dimensionen zu tun. Im Vergleich zu den 9.000 israelischen Siedlern, die im Jahr 2005 aus dem Gazastreifen abgezogen sind, liegt die aktuelle Zahl zwanzigmal höher.

Baltiansky: Das ist richtig. Doch letztlich würden vergleichsweise wenige Siedler gewaltsamen Widerstand leisten. Angenommen, wir beziffern die Zahl der gewaltbereiten Extremisten auf 10.000, was hoch gegriffen ist. Sollten sich neun Millionen Israelis von diesen 10.000 Siedlern die Zukunft diktieren lassen? Das macht für mich keinen Sinn.

Die größere Hürde für den Frieden liegt in dem Risiko, das Politiker bei der Konfrontation mit den Hardlinern eingehen. Damit meine ich nicht nur das politische, sondern auch das persönliche Risiko. Wir alle erinnern uns an das Schicksal von Jitzchak Rabin und Anwar Sadat.

Mit einer politischen Führung, die den entsprechenden Mut aufbringt, wäre die Zweistaatenlösung weiterhin umsetzbar. Nach einem entsprechenden Abkommen würden bis zur vollständigen Umsetzung einige Jahre ins Land gehen, wobei die besonders heiklen Punkte in die Schlussphase fallen dürften. Der Abzug der Siedler würde nicht wie im Gazastreifen eine Woche dauern. Ein Großteil von ihnen arbeitet ohnehin in Israel. Ihre Rückkehr ins israelische Kernland dürfte nicht so schwierig sein.



Ginge der Prozess in Kooperation mit der palästinensischen Seite und der internationalen Gemeinschaft relativ reibungslos vonstatten, hätte die zum Widerstand bereite Minderheit viel weniger Rückhalt in der Öffentlichkeit. Diese Menschen würden als Gegner einer Erfolgsgeschichte wahrgenommen – als Gegner eines Friedensabkommens. Wer sich damals gegen den Rückzug aus dem Gazastreifen wehrte, widersetzte sich einem einseitigen Abzug, nicht einem Friedensabkommen. Das ist ein großer Unterschied. Außerdem wäre es auch denkbar, dass einige wenige Siedler dort bleiben und Bürger Palästinas werden. Diese Idee kam bereits in früheren Gesprächen auf.

Es gibt keine andere politische Lösung

Gibt es einen "point of no return“, wie beispielsweise Baumaßnahmen in der sog. E1-Zone (einem ca. zwölf Quadratkilometer großen Gebiet nordöstlich von Jerusalem)? Was sagen Sie der wachsenden Zahl von Kritikern, die die Zweistaatenlösung für tot halten?

Baltiansky: An einen "point of no return“ glaube ich schon deshalb nicht, weil es keine andere Lösung gibt. Teilung ist das Mittel, nicht das Ziel. Viele Palästinenser, insbesondere junge Menschen, würden gleiche Rechte in einem einzigen Staat einer Zweistaatenlösung vorziehen. Für israelische Juden widerspricht das dem Grundgedanken des Zionismus, wonach sie den Schlüssel zu ihrem eigenen Staat in der Hand halten wollen. Unter dem Strich bedeutet das: Es gibt ein Land, das eines Tages entweder geteilt bleibt oder zu einer Einheit wird. Nur die Verfechter der Zweistaatenlösung könnten diese eines Tages sterben lassen. Aber solange wir nicht aufgeben, bleibt sie auf dem Tisch.

Einen „point of no return“ gibt es nicht: „Teilung ist das Mittel, nicht das Ziel“, behauptet Baltiansky. „Viele Palästinenser, insbesondere junge Menschen, würden gleiche Rechte in einem einzigen Staat einer Zweistaatenlösung vorziehen. Für israelische Juden widerspricht das dem Grundgedanken des Zionismus, wonach sie den Schlüssel zu ihrem eigenen Staat in der Hand halten. Unter dem Strich bedeutet das: Es gibt ein Land, das eines Tages entweder geteilt bleibt oder zu einer Einheit wird. Nur die Verfechter einer Zweistaatenlösung könnten diese eines Tages sterben lassen. Aber solange wir nicht aufgeben, bleibt diese Lösung auf dem Tisch.“
Einen "point of no return“ gibt es nicht: "Teilung ist das Mittel, nicht das Ziel“, behauptet Baltiansky. "Viele Palästinenser, insbesondere junge Menschen, würden gleiche Rechte in einem einzigen Staat einer Zweistaatenlösung vorziehen. Für israelische Juden widerspricht das dem Grundgedanken des Zionismus, wonach sie den Schlüssel zu ihrem eigenen Staat in der Hand halten. Unter dem Strich bedeutet das: Es gibt ein Land, das eines Tages entweder geteilt bleibt oder zu einer Einheit wird. Nur die Verfechter einer Zweistaatenlösung könnten diese eines Tages sterben lassen. Aber solange wir nicht aufgeben, bleibt diese Lösung auf dem Tisch.“

Wie stehen Sie zu einer Konföderation, wie sie beispielsweise die Initiative A Land for All fordert? Besteht ein Dialog zwischen der Genfer Initiative und anderen Organisationen, die alternative Lösungen verfolgen?

Baltiansky: Ich kann mir schon vorstellen, dass eines der in Frage kommenden Modelle eine Zweitstaatenkonföderation ist, solange es sich um zwei souveräne Staaten mit einem klaren Grenzverlauf handelt. Und um Ihre zweite Frage zu beantworten: Ja, es gibt diesen Dialog. Ich habe allerdings den Eindruck, dass diese Initiativen auch nichts dagegen hätten, wenn sich die Idee eines gemeinsamen Staates durchsetzt. Wir sind aber klar gegen eine Einstaatenlösung, weil diese andauernde Gewalt zur Folge hätte und wir ein demokratisches Israel erhalten wollen, das die Heimat des jüdischen Volkes ist.

Hat sich der Versuch, mit der Genfer Vereinbarung von 2003 eher auf Trennung statt auf Versöhnung der verfeindeten Parteien zu setzen, als Irrweg erwiesen?

Baltiansky: Wir haben zu lange davon gesprochen, uns von den Palästinensern trennen zu wollen. Dass man sich auf die Feindseligkeiten und auf die Vorstellung eines Nullsummenspiels statt auf eine Win-win-Situation und auf Kooperation zwischen beiden Seiten konzentrierte, war ein Zugeständnis an die Mitte-Rechts-Fraktion. Oberstes Gebot bleibt nach wie vor die Festlegung von Grenzen. Ich gestehe aber ein, dass unser Vorschlag zu technisch war und die Bedeutung der vorherrschenden Narrative nicht ausreichend berücksichtigt hat. Das haben wir im Laufe der Jahre geändert. Heute thematisieren wir auch das in unseren Seminaren und Workshops.

 

 

Mehr Interesse an Veranstaltungen zum Frieden

Wie steht es heute um die Zusammenarbeit der israelischen und der palästinensischen Zivilgesellschaft?

Baltiansky: Wir arbeiten täglich partnerschaftlich mit der Palästinensischen Friedensallianz zusammen. Tausende beteiligen sich jedes Jahr an unseren gemeinsamen Aktivitäten. Obwohl auf palästinensischer Seite gegen eine Normalisierung gearbeitet wird, und obwohl in Israel die Tendenz wächst, Delegationen, die nach Ramallah fahren, "Verrat“ zu unterstellen, nehmen die Teilnehmerzahlen zu. Die öffentliche Darstellung unserer Aktivitäten leidet allerdings stark. Die meisten palästinensischen Teilnehmer sind sehr zurückhaltend und bitten uns, keine Bilder online zu veröffentlichen.

Welche Rolle spielen internationale Akteure? Was sollte die EU im Umgang mit den Konfliktparteien ändern?

Baltiansky: Die USA scheinen sich in unserer Region mittlerweile weniger stark zu engagieren, würden aber jeden Schritt nach vorne unterstützen. Die EU unterschätzt ihren Einfluss. So konnte sie beispielsweise die Räumung der Beduinensiedlung Khan al-Ahmar und geplante Bautätigkeiten in der E1-Zone verhindern. Einige Minister in Israel warten sogar darauf, dass eine Initiative von Dritten auf den Tisch kommt, obwohl sie das in der Öffentlichkeit nicht so sagen würden. So ist Israels Außenminister Jair Lapid sehr EU-orientiert.

Im Unterschied zu vorherigen Regierungen sucht die aktuelle Führung nach besseren Beziehungen zu Europa. Israel sollte sich nicht ausschließlich auf Sicherheits- oder Wirtschaftsthemen konzentrieren. Es ist an der Zeit, dass die EU mit uns in einen kritischen Dialog tritt, nicht nur über die Siedlungen oder die Unruhen im Jerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrah. Hier ist Diplomatie gefragt. Ansonsten schreitet die internationale Gemeinschaft immer nur als eine Art "Feuerwehr“ ein, wenn die Dinge eskalieren. Das lässt sich ändern, indem man einen politischen Horizont aufzeigt – vielleicht in Form von Zwischenschritten zu einer Zweistaatenlösung. Diese Rolle könnte die EU spielen.

Mit den sog. Abraham-Abkommen hat sich die Dynamik in der Region verschoben. Halten Sie es für möglich, dass sich die Golfstaaten in den Friedensprozess einschalten?

Baltiansky: Das hoffe ich. Bisher gibt es dafür zwar keine Anzeichen, aber wir befinden uns ja noch in der Frühphase der bilateralen Beziehungen. Ich befürworte selbstverständlich die Abkommen und hoffe, dass sich diese Beziehungen als ein Anreiz erweisen, um zu einer positiven Entwicklung der israelisch-palästinensischen Beziehungen beizutragen.

NGOs, die für den Frieden in der Region eintreten, werden von Palästinensern zunehmend als wirkungslos kritisiert. Manche von ihnen halten diesen Organisationen sogar vor, sie würden dem Besatzungszustand eine Art amtlichen Stempel verleihen.

Baltiansky: Es besteht eine Spannung zwischen dem täglichen Kampf gegen die Folgen der Besatzung und dem Kampf, um sie zu beenden. Eine Verbesserung der Lebensbedingungen und die Berichterstattung über Verstöße gegen Menschenrechte können Lebensbedingungen verbessern. Das ist viel wert. Doch man muss hierfür auch an einer politischen Front kämpfen, um eine Einigung zu erzielen. Deshalb gibt es verschiedenste NGOs.

Einige treten für Menschenrechte ein, andere – wie die Genfer Initiative – für Lösungen, um den Konflikt zu beenden. Bislang sind wir Tag für Tag gescheitert und zwar tausende Tage hintereinander. Doch ein einziger erfolgreicher Tag macht den Unterschied. Ohne die geleistete Vorarbeit wird dieser Tag aber nie kommen. Wir sind nicht bereit, die Chance auf Frieden aufzugeben. Solange das so ist, hoffen wir, dass uns die internationale Gemeinschaft nicht allein lässt.

Das Interview führte Noam Yatsiv

© Qantara.de 2022

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers