Der Nahost-Konflikt im Kleinformat
„Im Konflikt um den Tempelberg stehen die Zeichen heute mehr denn je auf Sturm“, schreibt der deutsch-israelische Historiker und Journalist Joseph Croitoru warnend gleich zu Beginn in seinem neuen Buch „Al Aqsa oder Tempelberg“ über den „ewigen Kampf um Jerusalems Stätten“. Wenig optimistisch gestimmt, widmet er sich darin einem der zentralen Brennpunkte des israelisch-palästinensischen Dramas. Denn zwischen Klagemauer und Felsendom spielt sich der Nahost-Konflikt im Kleinformat ab.
Wie unter einem Brennglas spiegeln sich auf dem gerade mal 14 Hektar großen, geschichtsträchtigen Areal in der Altstadt von Jerusalem seit Jahrhunderten die wechselnden Machtverhältnisse in der Region und, seit dem späten 19. Jahrhundert, die Ambitionen zweier rivalisierender Nationalbewegungen wider, der zionistischen wie der arabisch-palästinensischen. Nur erstere hat es zur Staatsgründung geschafft. Und diese Dominanz prägt auch die jüngsten Entwicklungen auf dem Tempelberg.
Als Israel im Sechstagekrieg von 1967 den Osten Jerusalems eroberte, übernahm es damit die Kontrolle über die Altstadt, und die Regierung schuf Fakten: Um den Zugang zur Klagemauer zu erleichtern, die früher in einer Sackgasse lag, ließ sie das historische Maghrebiner-Viertel kurzerhand abreißen und schuf vor der Klagemauer jenen großzügigen Platz, wie man ihn heute kennt. Wäre es nach dem Militärrabbiner Schlomo Goren gegangen, hätte die Armee 1967 auch die Moscheen auf dem Tempelberg gesprengt. Der Militärrabbiner war ein orthodoxer, messianischer Eiferer, der im Sieg seiner Armee ein Zeichen Gottes sah.
Der Komplex aus Felsendom, Al-Aqsa-Moschee und Klagemauer ist der geheimnisvollste und umstrittenste heilige Ort der Welt
Doch Verteidigungsminister Moshe Dayan hatte andere Pläne. Die Verwaltung überließ er weiter der islamischen Waqf-Stiftung, die schon während der britischen Mandatsherrschaft in Palästina über die heiligen Stätten wachte und die von Jordanien finanziert wird. Und Dayan verfügte, dass jüdische Besucher auf dem Moscheeareal nicht beten oder sonstige Kulthandlungen durchführen dürfen. Israels orthodox geprägtes Oberrabinat begrüßte diesen Schritt. Bis heute vertritt es die Meinung, Juden sollten den Berg noch nicht einmal betreten, solange dort nicht wieder der Tempel steht. Den Tempel wiederaufzubauen sei aber allein Gott vorbehalten.
Nationalreligiöse Extremisten sehen das anders. Jüdische Terroristen haben in der Vergangenheit versucht, den Felsendom in die Luft zu sprengen. Heute gibt es etwa 20 fundamentalistische Gruppen, die den Tempel des Herodes, den die Römer zerstörten, wieder aufbauen wollen. Sie nennen sich „Bewegung der Getreuen des Tempelbergs“, „Freunde des Tempels“ und „Krone der Priester“, und manche von ihnen unterhalten in der Altstadt von Jerusalem Talmudschulen und Synagogen. Evangelikale Christen unterstützen sie, denn sie sehen im Bau des dritten Tempels ein Zeichen der Wiederkunft Christi. Durch die Agitation dieser Gruppen hat die Zahl jüdisch-israelischer Besucher auf dem Tempelberg in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen. Die frommen Nationalisten umrunden mittlerweile täglich in kleinen Gruppen die Al Aqsa-Moschee und den Felsendom, um ihren Anspruch auf das Heiligtum zu unterstreichen.
Auf dem Tempelberg soll der erste jüdische Tempel gestanden haben, den König Salomo errichtete und die Babylonier zerstörten. Ihm folgte der von König Herodes errichtete Nachfolgebau, den die Römer im Jahr 70 nach Christus zerstörten. Die Klagemauer wird von frommen Juden als Überrest der alten Tempelanlage betrachtet, und damit als heilig.
Interessanterweise hat sie sich aber erst im 16. Jahrhundert, in frühosmanischer Zeit, als Gebetsstätte etabliert. Von der zionistischen Bewegung wurde sie dann im 19. Jahrhundert zum nationalen Symbol erkoren. Im Gegenzug rückte die Al-Aqsa-Moschee immer mehr ins Zentrum der entstehenden palästinensischen Nationalbewegung. Für gläubige Muslime ist sie nach Mekka und Medina das wichtigste Heiligtum, weil der Prophet Mohammed der Überlieferung nach von dort aus seine nächtliche Himmelsreise unternommen haben soll.
Schon in den 1920er Jahren versuchte der damalige Obermufti von Jerusalem, Amin El-Husseini, vor allem unter arabischen Muslimen weltweit religiöse Gefühle zu mobilisieren, um Mitstreiter für die palästinensische Sache zu gewinnen. Nach dem Sechstagekrieg 1967, als Ost-Jerusalem unter israelische Kontrolle kam, beanspruchte die säkulare PLO, die heiligen Stätten der Muslime schützen zu wollen, und versuchte, die Jerusalem-Verehrung der Muslime für sich zu nutzen. Unterstützung erhielt sie damals aus Kairo und Saudi-Arabien und später, nach der Islamischen Revolution, aus dem Iran. Doch die PLO erhielt Konkurrenz. Die 1988 gegründete islamistische Hamas rückte das religiöse Motiv ins Zentrum ihres Kampfes und nahm den Felsendom sogar in ihr Emblem auf. Von zwei gekreuzten Schwertern und palästinensischen Fahren umrahmt, prangt er dort in der Mitte.
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Zur Jahrtausendwende flammte der Konflikt um den Tempelberg erneut auf. Als der damalige israelische Oppositionsführer, der Hardliner Ariel Scharon, am 28. September 2000, von Bodyguards umringt, den Tempelberg aufsuchte, wurde das von Palästinensern als Machtdemonstration verstanden. Der blutige Aufstand, der anschließend losbrach, ging als Al-Aqsa-Intifada in die Geschichte ein. Er kostete tausenden Menschen das Leben und brachte den Friedensprozess zum Stillstand, aber Sharon an die Macht. Seitdem setzt Israel einseitig auf das Recht des Stärkeren und schafft, durch die Abriegelung des Gazastreifens sowie den Bau der Sperrmauer und von immer mehr Siedlungen im Westjordanland, neue Fakten.
Unter nationalreligiösen Politiker sei es inzwischen fast schon zur Routine geworden, dem Beispiel Sharons folgend den Tempelberg aufzusuchen, schreibt Croitoru. Auch der Strom jüdischer Pilger ist stark angeschwollen, er hat sich in der vergangenen Dekade vervielfacht. Muslimische Proteste dagegen wurden unterbunden, die Waqf-Stiftung als Aufsichtsbehörde wurde schrittweise entmachtet. Die israelische Polizei setzt heute durch, dass die Pilger auch an islamischen Feiertagen Zutritt zum Gelände haben und dort leise beten dürfen. Croitoru zeichnet diese Entwicklung nach, und es liest sich spannend wie ein Krimi.
Palästinensische Muslime fürchten, das Areal könne bald zwischen jüdischen und muslimischen Gläubigen aufgeteilt werden, wie es in Hebron am Grab des Patriarchen Abraham der Fall ist. Der Einfluss der radikalen Tempelberg-Aktivisten auf die israelische Politik, die genau das anstreben, hat in den vergangenen zehn Jahren jedenfalls stark zugenommen.
Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der Streit um den Tempelberg das nächste Mal wieder aufflammt. Ruhe wird dort so schnell nicht einkehren.
© Qantara.de 2021
Joseph Croitoru: Al Aqsa oder Tempelberg. Der ewige Kampf um Jerusalems heilige Stätten. Verlag C.H. Beck, 2021.