Kairos urbane Konterrevolution
Downtown Kairo im Sommer 2012. Nach 18 Monaten politischer Instabilität und Militärherrschaft bewegt sich das Land wenige Wochen nach der Wahl des Muslimbruders Mohamed Mursi zum Staatspräsidenten in etwas ruhigeren Gewässern – zumindest vorerst. Das Land erlebt einen politischen Frühling, der weit kürzer währen sollte als von vielen erhofft.
In jenem Sommer schoss sich die anti-islamistische Opposition langsam auf Mursi und seine Regierung ein. Streiks, Proteste und Kundgebungen gehören dieser Tage zum Alltag. Vor allem die Innenstadt von Kairo ist das Epizentrum eines gesellschaftlichen Freiraums, in dem politischer Pluralismus und Vielfalt regieren.
Bars und Cafés platzen aus allen Nähten. Aktivisten, Journalisten, Menschenrechtler und Kulturschaffende tummeln sich in Downtown Kairo, diskutieren Strategien und planen ihre nächsten Schritte. Kontroverse Debatten werden laut und öffentlich ausgetragen. Nicht selten finden sich Kommunisten, Islamisten und Wirtschaftsliberale an einem Tisch zusammen und streiten. Die Versammlungs- und Meinungsfreiheit im Land blüht auf, kaum einer fürchtet sich davor politisch Stellung zu beziehen.
Die unsichtbare Staatsmacht
Graffitikünstler toben sich von der Staatsmacht unbehelligt auf den trostlosen grauen Mauern der langsam verfallenden Altbauten des Viertels aus und dessen Straßen füllen sich mit tausenden Straßenhändlern, die in jedem Winkel des Bezirks ihre Waren feilbieten. Die Staatsmacht ist unsichtbar.
Doch heute, fünf Jahre nach Beginn des Aufstandes gegen das Regime von Ex-Diktator Hosni Mubarak, sind dies nur noch blasse Erinnerungen. Denn das restaurierte Regime unter Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi räumt auf und zwar gründlich. Sämtliche Spuren der Revolution von 2011 wurden demontiert und nach und nach ausradiert. Kein Wunder. Denn Downtown Kairo sei eine Art Hinterhof der Revolution gewesen, meint der Stadtplaner Omar Nagati, ein Symbol für den Aufstand gegen die herrschende Klasse.
Doch seit dem Staatsstreich gegen Mursi werden Proteste islamistischer und linksliberaler Gruppen in der Kairoer Innenstadt konsequent und immer wieder blutig niedergeschlagen. Die Armee fährt Panzer auf und das Innenministerium restauriert seinen Zugriff auf das Viertel. Jeder Straßenabschnitt ist heute wieder mit Spitzeln besetzt. Regimekritik wird nur unter vorgehaltener Hand geäußert, aus Angst vor Beamten in Zivil.
Razzien gegen alles und jeden, der nicht vollends auf Regimelinie getrimmt ist, sind wieder alltäglich. Selbst Kultureinrichtungen sind jüngst zum Ziel der Regierung geworden. Erst im Dezember wurde die Townhouse Gallery, ein beliebtes Kulturzentrum mit einer Konzerthalle und Ausstellungsräumen, behördlich durchsucht und geschlossen. Kurz darauf war das linke Verlagshaus Merit Ziel einer Razzia.
Das Regime wurde kurz vor dem Jahrestag der Revolution am 25. Januar nervös und setzte wieder verstärkt auf die offene Verfolgung Oppositioneller, aber auch einfacher Bürger. Die Botschaft ist klar. Wer es wagt das staatliche Narrativ in Frage zu stellen oder öffentlich aufzubegehren und an die Ereignisse vom Januar 2011 zu erinnern, wird die Macht des Regimes zu spüren bekommen.
Politisch motivierte Gentrifizierung
Derweil setzt das Regime seit Ende 2013 auf eine zunächst symbolische, inzwischen jedoch allumfassende Gentrifizierung der Kairoer Innenstadt. Hausfassaden werden gestrichen, der symbolträchtige Tahrir-Platz aufgehübscht, Grünanlagen angelegt, Ampeln und Videokameras aufgestellt. Die Polizei ist omnipräsent, regelt den Verkehr und kontrolliert Ausweise. Staatliche Einrichtungen werden renoviert. Der während der Revolution ausgebrannte Hauptsitz der aufgelösten Nationaldemokratischen Partei Mubaraks, der wie ein Mahnmal über dem Tahrir-Platz thronte, wurde abgerissen und dem Erdboden gleichgemacht. Und auch die Tage der berühmten Graffitiwand in der Mohamed-Mahmoud-Straße sind gezählt.
Die englischsprachige Ausgabe von Al-Ahram, dem größten staatlichen Verlagshaus im Land, schreibt, der Tahrir-Platz sei nicht länger ein Ort des politischen Dissenz. Toleriert werden hier nur noch Kundgebungen, die das Regime bejubeln.
Auch die Straßenhändler sind verschwunden. Mitte 2014 begannen Polizei und Armee mit der gewaltsamen Vertreibung der Händler. Schritt für Schritt und Straße für Straße. Das Problem dabei sei jedoch nicht die Umsiedlung der Händler, sondern die Vorgehensweise dabei, meint Ahmed Al-Attar, der in der Innenstadt mehrere Kultureinrichtungen betreibt und mit D-Caf das größte Kulturfestival der Stadt organisiert. "Es war unmöglich hier zu leben mit all den Händlern auf der Straße", meint er.
Doch für langfristige Lösungen müsse man mit den Menschen reden und sie in die Entscheidungsfindung einbeziehen. Schon in den 1990er Jahren sei die Aufwertung des Viertels gescheitert, weil die Bevölkerung nicht eingebunden wurde. Und sie werde erneut scheitern. Denn erzwungene Lösungen seien keine langfristigen Lösungen, betont er.
Sicherheitspolitisches Paradigma
Problematisch an der Kampagne in Kairos Innenstadt ist jedoch vor allem die politische Motivation dahinter. Dabei seien Gentrifizierungsprozesse normal, meint Al-Attar. "Künstler siedeln sich in bestimmten Vierteln an, weil die Mieten billig sind. Sie leben, arbeiten und ziehen dann weiter, wenn Immobilienfirmen aktiver werden." Doch die andauernde Gentrifizierung Downtowns sei politischer Natur. Die Regierung wolle nicht, dass das Viertel zum Zentrum politischer Bewegungen werde, betont er.
"In den letzten Jahren bemühte man sich systematisch darum, die öffentliche Ordnung und staatliche Autorität wieder herzustellen, was auch bedeutete, die Kontrolle über den öffentlichen Raum zurückzugewinnen. Kairos Innenstadt war dabei das Pilotprojekt", sagt Nagati. Dies sei indes nicht nur auf Maßnahmen wie die Vertreibung der Straßenhändler und das Streichen von Häuserfassaden begrenzt, sondern beinhalte auch Sicherheitsmaßnahmen wie die Errichtung von Absperrungen, die Einschränkung von Versammlungen und Behinderung der Zivilgesellschaft beinhaltet, erklärt der Stadtplaner.
Heute sind die Kaffeehäuser und Bars schlecht besucht, viele haben dicht gemacht oder wurden auf Anordnung der Behörden geschlossen. Die Gäste sind genervt von neuen Regeln wie etwa dem Verbot Backgammon an den Tischen zu spielen, die auf Bürgersteigen stehen. Die Kundschaft wandert ab, auch aufgrund derartiger Restriktionen. Zuvor fanden das ganze Jahr über Konzerte, Theaterprojekte und politische Veranstaltungen statt. Heute herrscht in der Innenstadt gähnende Leere.
Unterdessen setzt die Regierung ihre als Modernisierung verkleidete Gentrifizierungskampagne fort und hat es dabei auch auf den zentralen informellen Bezirk Maspero abgesehen. Beobachter befürchten hier eine weitaus radikalere Gangart als in der Innenstadt. Denn hier finden sich keine Altbauten, sondern lediglich informelle Strukturen. Tausenden Menschen droht die Zwangsvertreibung.
Sofian Philip Naceur
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