Radikalisierung der Muslimbrüder erwünscht
Nur eines ist im Moment in Ägypten sicher: Von hier aus kann es nur noch schlimmer werden. Derweil ist die Gegenwart schon furchterregend. Am Morgen nach der Räumung der beiden Protestlager in Kairo spricht das Gesundheitsministerium von 525 Toten, darunter 43 Polizisten. Fast die Hälfte der toten Demonstranten ist danach bei Protesten umgekommen, die nach der Räumung in allen Teilen des Landes ausgebrochen sind. Die Muslimbrüder sprechen von über 2000 Toten. Die wahre Zahl im diesem Opferzahlen-Propaganda-Krieg liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte und dürfte noch steigen, wenn die zum Teil verbrannten Leichen in den Überresten der Lager identifiziert sind.
Das Militär, die Übergangsregierung und ein guter Teil der sogenannten liberalen Bewegung übt sich in Rechtfertigungsversuchen für das brutale Vorgehen der Polizei. Ministerpräsident Hasem El-Beblawi lobte die Polizeiaktion, die Ägypten dem Ziel, einen „demokratischen, zivilen Staat zu errichten“ näher gebracht habe. Worte, die in den Ohren der Pro-Mursi und Anti-Coup-Demonstranten wie blanker Hohn klingen müssen.
Zivile Fassade bröckelt
Genauso wie die Worte des Innenministers Muhammed Ibrahim, der von der Zurückhaltung seiner Polizei sprach, die angegriffen worden sei. Eine Art Vergeltungsschlag also. Außerdem kündigte Ibrahim an, keinen Sitzstreik und kein Protestlager der Pro-Mursi-Anhänger mehr zuzulassen. So kommt es, dass ein Innenminister in der Nach-Mubarak-Zeit folgenden bemerkenswerten Satz formuliert hat: „Ich verspreche, sobald sich Ägypten stabilisiert hat, werden wir wieder eine Sicherheit wie vor dem Sturz Mubaraks herstellen“. Das hält Liberale wie Khaled Daoud, den Sprecher der Nationalen Rettungsfront, der größten liberalen Opposition gegen Mursi, nicht davon ab, dem Polizeieinsatz ebenfalls zu applaudieren.
Doch die liberale Front an der Seite des Militärs bekommt erste Risse. Vizepräsident Muhammad El-Baradei hat seinen Rücktritt eingereicht, weil er den Räumungsbeschluss nicht mittragen möchte. Es kursieren zahlreiche Gerüchte, dass andere Kabinettsmitglieder der Übergangsregierung folgen könnten. Das zivile Regierungscover der Militärherrschaft bröckelt zumindest.
El-Baradei erklärte, dass die brutale Räumung zur Radikalisierung auf beiden Seiten führen werde. Tatsächlich öffnen Putsch und Räumung Tür und Tor für allerlei Varianten des Radikalismus unter den Islamisten. Denn deren Gegner verkaufen Putsch und Räumung als notwendigen Teil der Demokratie. Welche Lehren zieht ein junger Muslimbruder heute aus dieser vermeintlichen Demokratie-Lektion?
Gefährliches Spiel der Staatssicherheit
Schon gestern war diese Radikalisierung spürbar, als landesweit nicht nur Polizeiwachen und Provinzverwaltungen von Demonstranten angegriffen wurden, sondern auch zahlreiche Kirchen. Es scheint mancherorten nicht schwer, den Ärger der Pro-Mursi-Anhänger auf die Kirchen zu lenken, hatte sich doch auch der koptische Papst, genauso wie übrigens der oberste Scheich der Al-Azhar Universität, offen auf die Seite des Putsches gestellt. Genauso wie ein großer Teil der koptischen Bevölkerung, mit der irrigen Hoffnung, dass damit die Muslimbruderschaft politisch ausgeschaltet wird.
Hitzköpfe finden sich in Ägypten genug in den Reihen der Islamisten, die sich bei einer Pro-Mursi-Demonstration gegen die Kopten leicht aufhetzen lassen. Unklar ist, wer die Angriffe auf die Kirchen befohlen und dirigiert hat. Der Führung der Muslimbrüder, die auf internationale Unterstützung gegen den Putsch hoffen, stehen derartigen Aktionen eigentlich schlecht an. Derweil ist aber nicht auszuschließen, dass in den niedrigeren Rängen solche Aktionen gutgeheißen werden. Möglich ist auch, dass radikale Salafisten dahinterstehen.
Zu Zeiten Mubaraks war es auch oft die Staatssicherheit, übrigens immer noch vollkommenen unangetastet, die gerade unter den Salafisten ihre Kandidaten für solche Operationen hatte. Man kannte sich von diversen Verhaftungen und aus dem Gefängnis. Da entstand nicht selten ein Arbeitsverhältnis. Immer wenn das Regime Mubarak in der Ecke stand, brannte als Ablenkungsmanöver irgendwo im Land eine Kirche. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Staatssicherheit wieder mit den altbewährten Methoden arbeitet, schließlich sind es immer noch die gleichen Staatssicherheitsoffiziere.
Dämonisierung des Feindes
Brennende Kirchen sind international ein gutes Marketingargument für die brutale Räumung und das weitere Vorgehen gegen die Muslimbruderschaft. Träfe es zu, dass die Staatssicherheit dabei ihre Finger mit im Spiel hat, dann wäre das ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Mubaraks Regime konnte konfessionelle Streitigkeiten je nach Bedarf an- und ausschalten. Heute ist es viel wahrscheinlicher, dass daraus eine Situation entsteht, die keiner mehr kontrolliert.
Dem Bündnis von Militärs und alten Mubarak-Seilschaften, vor allem im Sicherheitsapparat, muss es nun darum gehen, die Muslimbruderschaft weiter politisch zu isolieren. Eine Radikalisierung der Islamisten ist da in diesen Kreisen eine durchaus wünschenswerte Entwicklung. Denn damit meint der Sicherheitsapparat besser umgehen zu können als mit Demonstrationen und Protestlagern.
Die 1990er Jahre, als überall im Land Bomben hochgingen und radikale Islamisten Anschläge auf Kopten und Touristen durchführten, waren die Hochzeit des ägyptischen Sicherheitsapparates, der den Kampf am Ende für sich entscheiden konnte. Die Lektion aus dieser Zeit: Islamisten, die Kirchen anzünden und Polizeistationen angreifen, sind besiegbar und international leichter zu dämonisieren.
Karim El-Gawhary
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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de