Wiederentdeckte Aufklärungen
Razmis Video ist Teil der vom Goethe-Institut Kairo geförderten Ausstellung "Vergessene Aufklärungen – unbekannte Geschichten über den Islam in der zeitgenössischen Kunst", die derzeit in der Leipziger Baumwollspinnerei zu sehen ist. Genauer: In der Halle 14, die schon immer den Anspruch hatte, über den Tellerrand hinauszublicken – so hat sie etwa ein Programm für Kunstvermittlung aufgelegt, das Kindern und Jugendlichen einen Zugang zur Kunst ermöglichen will.
Im Fall der aktuellen Ausstellung geht der Blick sehr weit hinaus, nach Pakistan, nach Indonesien, und noch weiter zurück, in die Renaissance, ins Mittelalter.
Wer sich der Ausstellung nähert, bleibt natürlich an diesem Reizbegriff hängen: Aufklärung. Der christliche Westen habe sie und sei deshalb geistig-kulturell dem islamischen Osten überlegen, so lautet die gängige Sprachregelung in den Populismus-gesättigten Kommentarräumen unserer Zeit.
Das Kuratoren-Duo Michael Arzt von der Halle 14 und Elham Khattab von der Kairoer Kunstinitiative "Out of the Circle" will dieser Deutung etwas entgegenstellen. "Knapp auf den Punkt gebracht, zeigt die Ausstellung, dass es die europäische Renaissance und Aufklärung so nicht geben würde ohne den Islam", sagt Michael Arzt, künstlerischer Direktor der Halle 14. Und Elham Khattab ergänzt: "Vielleicht wird das in den westlichen Schulbüchern nicht gelehrt, aber wir haben eine lange Geschichte der Wissenschaft und Innovation."
Neue Sichtweisen eröffnen
Die tatsächlich extrem vielfältigen Einflüsse der Arbeiten früherer islamischer Gelehrter – übrigens auch von gelehrten Frauen wie der Astronomin Mariam al-Asturlabi aus dem 10. Jahrhundert – sind nicht das Kernthema der Ausstellung. Wichtiger ist es ihr, dem Publikum neue Sichtweisen zu eröffnen.
Durchaus witzig und provokant sind etwa die Arbeiten von Sukaina Joual, 1990 in Marokko geboren: Durch ihr Werk zieht sich das Thema Fleisch, in Verpackungen, auf Schlachtmessern, auf Leuchtreklamen. Das wirkt obsessiv – und zeigt zugleich die dem Westen eigene Obsession mit dem Islam. Nur dort diskutieren Stammtische über muslimische Essvorschriften, nur dort spricht man über die typischen "Halal"-Schilder an den Restaurants, und selbst der Döner ist eine deutsche Erfindung.
Auch das Kopftuch ist so ein Symbol für unsere nicht immer auf Wissen gründende Besessenheit mit dem Islam. Die Künstlerin Feriel Bendjama beschreibt in der Porträtfotoserie "We, they and I" verschiedene Sichtweisen auf dieses Kleidungsstück und damit auf die muslimische Frau.
Religiös oder rauchend, mit Schnuller oder Schnurrbart: Bendjama verwandelt die gezeigte Frau, übrigens sie selbst, in das, was sie aus westlicher Perspektive viel zu häufig noch ist – eine Projektionsfläche eigener Erwartungen und Ansichten.
Arabische Kalligrafie und zerstörte syrische Städte
Feriel Bendjama wurde 1980 bei Dresden geboren, ist aber in Algerien aufgewachsen. Bei Manaf Halbouni ist es andersherum: Geboren in Syrien, lebt er seit gut zehn Jahren in Dresden. In der Ausstellung zeigt er die oft als ästhetisch gerühmte arabische Kalligrafie, gegossen in brutalen, auf die Zerstörung syrischer Städte verweisenden Stahlbeton.
Halbouni ist keiner, der die Auseinandersetzung scheut: Seine Installation "Monument", drei hochkant gestellte Busse in Erinnerung an den syrischen Bürgerkrieg, interpretierten Pegidisten und Identitäre als Verharmlosung der Dresdner Opfer während des Zweiten Weltkriegs und Verherrlichung des Terrorismus. Genau das Gegenteil sei der Fall, antworte Halbouni.
Dresden, Leipzig, Sachsen: Wo der Ort ins Spiel kommt, wird auch eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst politisch. Das ist dem Kuratoren-Duo natürlich bewusst. Als Elham Khattab als Direktorin der Kunstinitiative "Out of the Circle" vor einigen Jahren an der Leipziger Galerie für zeitgenössische Kunst arbeitete, lief sie direkt in eine Demonstration von Legida, dem örtlichen Pegida-Ableger.
Diese Gruppierung demonstrierte damals gegen eine angebliche "Überfremdung" ihrer kulturellen Heimat durch den Islam. "Diese Leute haben sehr deutlich gesagt, dass Araber und Muslime hier nicht willkommen sind", sagt Khattab. "Und deswegen fand ich es so spannend, als mich später Michael Arzt kontaktiert hat mit der Idee, den Leuten mehr Wissen über die Muslime und den Islam zu vermitteln."
Nicht nur der Westen hat Klischeebilder von Muslimen
Und vielleicht trug es dazu bei, dass Khattab Leipzig mittlerweile als ihr zweites Zuhause betrachtet. Dass die Leute sie anfangs unterschätzten, weil sie ein Kopftuch trägt, nimmt sie ihnen nicht übel. „Es hat allerdings eine Weile gedauert, bis sie mich und meinen Hintergrund verstanden haben.“
Das Video der Künstlerin Anahita Razmi sei ihr sehr nahe, sagt Khattab. Gerade weil sie dadurch habe nachdenken müssen – ist es in Ordnung, Klänge aus dem Gebetsruf gemeinsam mit einer Tanzdarbietung zu zeigen? "Oder bin ich es selbst, die übertreibt? Nicht nur der Westen hat Klischeebilder von uns Muslimen. Auch wir selbst haben sie von uns." Razmis Video habe sie dazu gebracht, wieder neu darüber nachzudenken, dass Kulturen offen für äußere Einflüsse sein sollten.
Die meisten gezeigten Werke der Leipziger Ausstellung sind nicht neu, doch die themen- und formatübergreifende Zusammenstellung macht die Schau sehr sehenswert. Manchmal ist der Bezug zum Thema Aufklärung, das über der Ausstellung schwebt, nicht immer ganz klar. Es sei denn, man ist bereit für einen gedanklichen Schritt zur Seite: So wichtig die islamische Blütezeit für die europäische Aufklärung war, so sehr stecken die Hochphasen ganz verschiedener Kulturen allesamt schon in jedem von uns. Wir beeinflussen uns gegenseitig, und nicht erst seit der Globalisierung. Dies anzuerkennen, wäre wichtig, erfordert aber, genau: aufklärerisches Denken.
Christopher Resch
Die Ausstellung "Vergessene Aufklärungen – unbekannte Geschichten über den Islam in der zeitgenössischen Kunst" läuft noch bis zum 4. August 2019.