Eine Waffe des zivilen Widerstandes
"Ich habe mich immer gefragt, warum es in Tunis keine Graffitis gibt! Warum sind die Wände entweder schmutzig oder nur weiß? Warum gibt es keine Street Art, keine Kritzeleien? Oder Botschaften – abgesehen von den Kürzeln EST, ESS und CA (Die für die Fußballvereine "Espérance Sportive Tunis", "Étoile Sportive du Sahel" und den "Club Africain Tunis stehen"; Anmerkung der Redaktion)? Ist dies ein Zeichen einer fortschrittlichen Gesellschaft? Oder sind wir einfach zu weit entfernt von der globalisierten Kultur?"
Fragen wie diese beschäftigten den jungen tunesischen Blogger "Zizou" aus Djerba bereits seit dem Jahr 2005. Heute, im Januar 2012, finden sich überall in Tunis Graffitis. In der U-Bahn und in Bahnhöfen, in den Straßen der Innenstadt ebenso wie in den Vorstädten, in den Universitäten, in wohlhabenden Gegenden wie in weniger wohlhabenden – einfach überall. Sogar bei den vergangenen Protesten, wie etwa bei dem großen "Bardo1 Sit-In" vor dem tunesischen Parlament sind Graffitis allgegenwärtig und begleiten die Unzufriedenen bei ihrem Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und die Rückkehr der Despoten.
Tagging – das Abstecken des Reviers
"Zuerst war dieses Phänomen nur auf die Untergrund-Szene beschränkt. Graffiti-Kunst hatte ein schlechtes Image bei den meisten Tunesiern. Sie nahmen es nur als Vandalismus wahr und nicht als Kunstform", erklärt Graffiti-Künstler Hafedh Khediri, alias "Sk-One". "Doch nun spricht jeder, der von der Meinungsfreiheit redet, auch von Street Art. Unter der Diktatur lebten wir wie unter einer Glaskuppel. Diese Glaskuppel ist explodiert und jetzt können wir unsere Kunst mit der ganzen Gesellschaft teilen", fügt Mouin Gharbi, alias "Meen-One", hinzu.
"Meen-One" bestätigt, was der Blogger "Zizou" bereits vor sechs Jahren geschrieben hatte. "Vor der Revolution waren es fast ausschließlich die jungen Anhänger von Fußball-Clubs, die sich mit ihren Botschaften einen Wettstreit mit den Fans anderer Clubs lieferten. Auch wenn diese Botschaften technisch noch sehr beschränkt waren, verhalfen diese Reviermarkierungen dem Graffiti zum Durchbruch in Tunesien", stellt "Meen-One" fest und fügt hinzu, dass "inzwischen aber einige von ihnen sich nicht mehr auf einfache Tags beschränken, sondern dazu übergehen, ganze Fresken zu schaffen."
Die Straßen von Tunis sind voller Tags. Einige Graffiti-Künstler passen diese großstädtische Kunstform einem lokalen Stil an, indem sie ihnen einen Touch arabesker Kalligraphie verleihen. Die eine Botschaft ruft nach der Legalisierung von Cannabis, eine andere verlangt die Auflösung der politischen Polizei. Eine weitere konstatiert ACAB ("All Cops are Bastards"), wiederum eine andere beschwört das Recht auf Arbeit oder das auf Meinungsfreiheit.
Doch abgesehen von den Inhalten der Botschaften ist es auch noch immer das Abstecken der jeweiligen Reviere, das einige tunesische Tagger aufstößt. "Meen-One" sieht darin sogar eine Gefahr und meint: "Wir brauchen heute mehr Solidarität unter den Graffiti-Künstlern. Es ist wichtig, nicht der Logik der Reviermarkierungen zu verfallen. Die ist doch vollkommen bedeutungslos, wenn es einem darum geht, seinen Stil weiterzuentwickeln und die soziale Dynamik zu fördern."
Politische Parolen auf monotonen Wände
Die Pariser Revolte vom Mai 1968, die Berliner Mauer zwischen 1961 und 1989, die seit 2002 von den Israelis geschaffene Mauer zum Gazastreifen: so viele historische Ereignisse, bei denen Bürger den politischen Spannungen mit einer großartigen Waffe begegneten: Graffiti. Auch in Tunesien gilt dies, wo die Wände nicht länger weiß sind, wo die Menschen nicht länger zum Schweigen verurteilt sind.
In einem solchen Kontext entwickelt sich ein neues Verhältnis zwischen den staatlichen Institutionen und den Graffiti-Künstlern. "Sk-One" meint dazu: "Die Institutionen sind flexibler geworden, nahbarer. Vor der Revolution hatte es gar keinen Sinn, überhaupt zu versuchen, in Kontakt mit ihnen zu kommen. Trotzdem ist noch ein langer Weg, in diese Richtung zu gehen." Die Graffiti-Künstler, von denen die meisten freiheitliche Anliegen verfolgen, fahren damit fort, die Grenzen ihrer Möglichkeiten auszureizen.
"Die städtischen Behörden sollten die von uns gestalteten Wände nicht mit Farbe übertünchen. Dies ist schließlich ein öffentlicher Raum – das Eigentum der Menschen, die hier leben", meint "Meen-One" in einem Anflug von Anarchismus, um dann moderater hinzuzufügen:
"Warum werden keine Graffiti-Parks eingerichtet oder bestimmte Räume speziell für Graffiti-Kunst ausgewiesen, wie das bereits in Europa gemacht wird? Die städtischen Behörden sollten einsehen, dass selbst wenn wir Botschaften taggen, diese gegen das politische Unrechtsystem gerichtet sind, wir dabei behilflich sind, die Monotonie der Wände aufzubrechen. Diese Farben machen unsere Städte doch viel lebenswerter. Zurzeit reagieren selbst die politischen Parteien positiv auf unsere Graffitis; einige von ihnen benutzten sie sogar im Wahlkampf."
"Meen-One" aber sperrt sich dagegen "Ich bin dagegen, dass sich die Graffiti-Künstler von der Politik vereinnahmen lassen. Sie sollten lieber unabhängig bleiben. Es ist eine Kunst mit anarchistischen Tendenzen und sie sollte immer die Rolle als Whistleblower und als Gegengewicht behalten."
Von den Straßen in die Galerien
In der gegenwärtigen post-revolutionären Phase gelingt es den Graffiti-Künstlern auch, in den Galerien ihren Platz zu finden. "Sk-One", der erste Graffiti-Künstler, der bereits im November 2009eine eigene Ausstellung in Tunesien eröffnete, meint dazu: "Es gibt heute immer mehr Unterstützung und Ermutigung. Wir werden immer häufiger angesprochen, ob wir an künstlerischen Veranstaltungen teilnehmen wollen. Graffiti hat sich inzwischen als wichtiger Bestandteil der kulturellen Landschaft in Tunesien etabliert."
Vor der Revolution war das noch ganz anders. "Die Galerien mieden die Graffiti-Künstler, denn sie alle glaubten, dass es sich bei ihnen um Aktivisten handle. Die wenigen Ausstellungen, die vor der Revolution Graffiti-Kunst zeigten, taten dies, indem sie sie ihrer politischen Aussage entkleideten und nur den dekorativen Aspekt hervorhoben", bemerkt "Meen-One".
"Sk-One" glaubt, dass dies als Ausdruck eines Modetrends zu werten ist. "Einige Galerien folgen diesem Trend, ohne überhaupt Ahnung von Graffiti als Kunstform zu haben. Mit der Zeit aber wird sich das geben und nur die wirklichen Künstler werden ihren Platz finden", stellt der junge Künstler fest.
Heute ermutigt dieser Freiheitsdrang in Tunesien die Menschen dazu, sich zu organisieren und eine neue, dynamischere Zivilgesellschaft zu etablieren.
Unter den Hunderten von Organisationen, die seit dem Ende der Diktatur neu geschaffen wurden, befindet sich auch die Gruppe Art Solution, gegründet von zwei tunesischen Breakdancern. Chouaib Brik, Mitbegründer dieser Vereinigung, erklärt: "Graffiti, Breakdance oder das MCing (abgeleitet vom Kürzel MC für den Moderator einer Bühnenshow, dem Master of Ceremonies; Anmerkung der Redaktion) gehören zur Hiphop-Kultur. Uns geht es darum, all diese künstlerischen Disziplinen zusammenzubringen, um unsere Events zu einem einheitlichen Universum zu machen."
Im Schulterschluss mit der Hiphop-Szene
Die vielen Fans der verschiedenen städtischen Radiostationen finden sich zusammen, um den sogenannten "Battles" zwischen den Breakdancern beizuwohnen. Rapper und DJs kümmern sich um die Musik und auch die Graffiti-Künstler liefern ihren Beitrag. "Es gibt noch keine Vereinigungen, die sich dem widmen, was wir tun. Selbst die Bildhauer-Gewerkschaft hat keinerlei Interesse, uns Graffiti-Künstler anzuerkennen und zu verteidigen. Doch ist es für uns wichtig, Unterstützung von solchen Organisation zu bekommen", erklärt "Meen-One", der an einigen, von Art Solution veranstalteten Events teilgenommen hat.
Eines davon fand im letzten Juli in Thala statt, nahe Gasserine, im Westteil des Stadtzentrums von Tunis, wo Polizisten Dutzende sogenannte "Märtyrer" der Revolution erschossen hatten. Der Graffiti-Künstler lieferte seine Performance in einer Polizeiwache, die während der Revolte verwüstet und niedergebrannt worden war.
"Der Umstand, dass Graffiti Teil dieses Breakdance- und Rap-Events geworden ist, gibt uns die Chance, ein Publikum zu erreichen, das mit unserer Kunst vielleicht noch gar nicht vertraut ist. Auf diese Weise können die Künstler ihrer Erfahrungen austauschen und die Rapper können unsere Kunst kennen lernen. Es schafft einen Raum für künstlerischen Austausch, der sehr wertvoll für uns ist", meint "Meen-One".
Diese Zusammenarbeit mit der Hiphop-Szene ermöglicht es ihnen, einen besonders dynamischen Kontext zu schaffen – zu einer Zeit, wo es neuen künstlerischen Ausdrucksformen an Möglichkeiten der Produktion und des Vertriebs noch mangelt. Die Bürokratie der staatlichen Institutionen kann hier kaum Abhilfe schaffen. "Die unterstützen uns so gut wie gar nicht. Die verschiedenen Behörden spielen mit uns Pingpong und schicken uns ständig von einer zu anderen Stelle", stellt Chouaib Brik von Art Solution fest.
"Wir haben es mit unserer Graffiti-Kunst inzwischen sogar schon geschafft, den Status eines Referenzpunktes zu erreichen. Um zu sagen, dass man einen bestimmten Bahnhof erreicht, sagen wir: ‚Steig an dem Bahnhof aus, der direkt nach dem Fight for your rights-Tag kommt!'" Bis der Staat den Graffiti-Künstlern einen Ort zur Verfügung stellt, der ihren Arbeiten gerecht wird, bleiben sie aber nicht tatenlos, sondern besetzen stattdessen lieber den öffentlichen Raum.
Thameur Mekki
© Babelmed 2012
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de