Toleranz kann nicht auf Furcht gründen
Dass die Beziehungen des Westens zur islamischen Welt in eine Sackgasse geraten sind, liegt auch am Unvermögen, eine stabile Form des Umgangs mit dem Islam in unserer eigenen Gesellschaft zu entwickeln.
Deutliche Entscheidungen sind unvermeidlich, doch nur dann akzeptabel, wenn sie auf dem Prinzip der Gleichbehandlung beruhen. Nichts nährt das Misstrauen mehr als der Gedanke, es werde mit zweierlei Maß gemessen.
Es geht um drei zentrale Fragen. Zunächst einmal: Inwieweit wird die Trennung von Staat und Kirche, die die Grundlage der Religionsfreiheit darstellt, in Europa verwirklicht?
Erst dann können wir, zweitens, die Muslime fragen, ob sie, da sie ja das Recht auf Religionsfreiheit für sich in Anspruch nehmen, auch bereit sind, diese Freiheit für andere Religionen oder Ungläubige zu verteidigen.
Außerdem muss man fragen, ob die Muslime jene Freiheit, die sie als Gruppe einfordern, auch den Mitgliedern ihrer Glaubensgemeinschaft zubilligen wollen.
Keine Religionsfreiheit ohne Säkularismus
Betrachten wir diese drei Fragen näher. Ohne die Trennung von Staat und Kirche gibt es keine Religionsfreiheit. Bei diesem Punkt herrschen zahlreiche Missverständnisse.
Die Trennung von Staat und Kirche ist nicht nur zum Schutz des Staates vor unangemessenem Druck von seiten der Kirche gedacht, sondern sie soll ebenso - und manchmal sogar mehr noch - die Kirche vor Interventionen des Staates bewahren.
Ich habe jedoch den Eindruck, dass man beim Bekenntnis zu dieser Trennung zu oft nur den Schutz des Staates im Auge hat. Gerade hinsichtlich des Islam muß jedoch immer wieder betont werden, dass den Muslimen grundsätzlich keine Hindernisse in den Weg gelegt werden dürfen, ihren Glauben frei zu praktizieren. Moscheen gehören prinzipiell dazu.
Religion keine reine Privatsache
Ein anderer Irrtum besteht darin zu glauben, die Trennung von Staat und Kirche bedeute, dass Religion reine Privatsache sei. Aber das säkulare Prinzip führt nicht zur Trennung von Kirche und Gesellschaft.
Zu einer Demokratie gehören religiöse Organisationen und Bewegungen. Selbst im streng säkularen Frankreich der Zeit zwischen den Weltkriegen gab es eine starke katholische Jugendbewegung.
Wenn wir den Grundsatz der Gleichbehandlung betonen, müssen wir uns fragen, ob wir in Europa nach diesem Prinzip leben.
In vielen Ländern gibt es Gesetze, die mit der Trennung von Staat und Kirche nur schwer vereinbar sind - man denke nur an die Kirchensteuer in Deutschland, an die offizielle Stellung der anglikanischen Kirche in Großbritannien, an die staatlich subventionierten Konfessionsschulen in Ländern wie den Niederlanden und Deutschland oder an die Kruzifixe in italienischen Klassenzimmern und Gerichtssälen.
Wer von Muslimen verlangt, die Religionsfreiheit zu akzeptieren, muss dies auch selbst tun. Nur auf der Grundlage der Trennung von Staat und Kirche ist ein neuer gesellschaftlicher Konsens möglich: Die Säkularisierung der Institutionen muss vollendet werden.
In einigen Ländern, unter anderem in Deutschland, kann man jedoch die Tendenz beobachten, das Problem der Integration des Islam in einen Dialog zwischen den Religionen umzuwandeln. Eine ganze Reihe von Christdemokraten sagen, dass "wir" - und damit meinen sie die christlichen Nationen Europas - mit den Vertretern des Islam ins Gespräch kommen müßten.
Jeder Dialog ist begrüßenswert, doch es steht säkularen Autoritäten nicht an, sich mit einer bestimmten Glaubensrichtung zu identifizieren. Ihre Aufgabe ist es, die Grundlagen für einen religiösen und weltanschaulichen Pluralismus zu garantieren.
Grundsatz der Religionsfreiheit
Deutsche und niederländische Christdemokraten haben damit offenbar große Schwierigkeiten. Mehr noch: Sie scheinen sogar für das Argument mancher Muslime empfänglich zu sein, die behaupten, durch ihre Anwesenheit in Europa stellten die Christen ihre Religion wieder mehr in den Mittelpunkt.
Gerade auf der Basis der Gleichbehandlung der Religionen dürfen und müssen Grenzen gezogen werden. Wir können den politischen Islam erst dann auf effektive Weise bekämpfen, wenn wir den Grundsatz der Religionsfreiheit praktizieren.
Dann nämlich können wir den Muslimen die zwingende Frage stellen, ob die Inanspruchnahme des Rechts auf Religionsfreiheit nicht unwiderruflich die Pflicht nach sich zieht, diese Freiheit auch für andere Religionen und für Ungläubige zu verteidigen. Diese Freiheit bekämpft der politische Islam nicht nur mit Worten, sondern auch mit Drohungen und Gewalt.
Die radikale Auslegung des Islam entsteht nicht in einem Vakuum. Viel zu oft teilen Muslime die Welt in zwei Teile: wir und die anderen, Muslime gegen Nichtmuslime.
Wenn die Religionsfreiheit dazu benutzt wird, Verachtung und Hass gegenüber Nichtmuslimen zu verbreiten, dann wird das Recht, auf das man sich beruft, ausgehöhlt, dann kommt früher oder später der Augenblick, in dem Muslime es sich selbst unmöglich machen, in einer Demokratie mit religiösem Pluralismus zu leben.
Kurzum: Das Recht auf freie Religionsausübung geht mit der Pflicht einher, die Freiheit der anderen zu verteidigen. Wenn die muslimische Gemeinschaft dazu nicht bereit ist, stigmatisiert und marginalisiert sie sich selbst.
Der Imam kennt nur den Gottesstaat
Vor einigen Monaten war ich zu einem interreligiösen Gespräch eingeladen. Als Nichtgläubiger durfte ich neben einem Imam, einem Bischof und einem Rabbiner Platz nehmen.
Jeder Dialog erfordert ein paar gemeinsame Prinzipien, und ein Gespräch zwischen den Religionen setzt ja wohl voraus, dass man das Prinzip der Religionsfreiheit als Ausgangspunkt akzeptiert.
Doch davon wollte der Imam nichts wissen: Ja, das niederländische Gesetz schreibe das Recht auf freie Religionsausübung vor, doch anderswo könne das ganz anders sein, dazu müssten sich höhere Autoritäten äußern.
Wir können mit solch einer Äußerung pragmatisch umgehen - der Imam akzeptierte die Religionsfreiheit in den Niederlanden -, aber dies ist der Weg des geringsten Widerstands. Wenn es um Gleichbehandlung geht, dürfen wir mehr Prinzipientreue erwarten.
Die Integration des Islam in die Demokratie erfordert also eine große Anpassung. Durch die Zuwanderung hat sich eine einzigartige Situation ergeben: Muslime stellen zum ersten Mal in der Geschichte die Minderheit in einer liberalen und säkularen Gesellschaft dar.
Das ist eine vollkommen neue Erfahrung, und es wäre folglich auch voreilig zu behaupten, dass der Islam, so wie er hier praktiziert wird, und die Grundsätze der Demokratie niemals miteinander in Einklang gebracht werden können. Es ist eine offene Frage, ob die Integration des Islam in Europa gelingen wird, und weil es dafür keine Garantien gibt, ist Deutlichkeit hinsichtlich aller Grundlagen von großer Wichtigkeit.
Paul Scheffer
© Qantara.de 2006
Paul Scheffer ist Publizist und Soziologe an der Universität Amsterdam
Qantara.de
Christian Walter:
"Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit wahren"
"Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet."
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