Gemeinschaft an Schulen wagen

An der katholischen Grundschule Mehlem werden Migrantenkindern mit Hilfe neuer Lehrkonzepte Bildungschancen eröffnet, die ihnen im gewöhnlichen Schulbetrieb noch immer oft vorenthalten werden. Susan Javad informiert

Schüler der Grundschule Mehlem, Foto: &copy Grundschule Mehlem
Gegenseitiger Respekt und Förderung sprachlicher Fähigkeiten stehen im Mittelpunkt des Lehrkonzepts an der Grundschule Mehlem

​​"Die Situation hatte schon etwas von Apartheid", sagt die Direktorin der katholischen Grundschule Mehlem, Annie Kawka-Wegmann. Vor knapp drei Jahren existierten noch zwei Grundschulen - Tür an Tür in der ruhig gelegenen Mehlemer Domhofstraße.

Die eine, die Gemeinschaftsgrundschule (GGS), wurde fast ausschließlich von Kindern aus Migrantenfamilien besucht. An der anderen, der katholischen Grundschule (KGS), an der Annie Kawka-Wegmann damals gerade die Leitung übernommen hatte, wurden dagegen überwiegend deutsche Kinder unterrichtet.

Die GGS hatte den Ruf eines sozialen Brennpunkts. Das Niveau der Schüler galt als unterdurchschnittlich und deutsche Eltern schulten ihre Kinder lieber anderswo ein. Wie aber sollten die Kinder aus nicht-deutschen Familien so ihre oft mangelhaften Deutschkenntnisse verbessern?

Dass dies so kaum möglich war und ihren Kindern damit wichtige Bildungschancen entgingen, war auch den Eltern der Schüler an der GGS bewusst. Sie schlugen deswegen die Zusammenlegung der beiden Grundschulen vor.

Skepsis und Überzeugungsarbeit

Nicht überall stießen sie mit dieser Idee auf Begeisterung. Die Eltern der Schüler der katholischen Grundschule fürchteten zunächst um das Unterrichtsniveau. Bei Annie Kawka-Wegmann dagegen stießen die Vertreter der GGS auf offene Ohren.

Interkulturelle Fragestellungen waren zwar Neuland für sie, aber, so unterstreicht sie, "für mich ist es Bestandteil meiner religiösen Überzeugung, für Chancengleichheit einzutreten."

Außerdem, so fährt sie fort, gehe es doch eigentlich nur um die konkrete Umsetzung allgemeiner Verfassungsgrundsätze. Die im Grundgesetz festgeschriebene Chancengleichheit ist für Annie Kawka-Wegmann der springende Punkt, und hierfür tritt sie mit Leib und Seele ein.

Als Kind eines während des Dritten Reiches nach Deutschland verschleppten Ukrainers hat sie selbst erfahren, dass es denjenigen, die etwas abseits der deutschen Mehrheitsgesellschaft stehen, im Bildungswesen oft nicht leicht gemacht wird.

Sie unterstützte also das Anliegen der GGS-Vertreter und leistete an ihrer eigenen Schule und bei den zuständigen Schulbehörden Überzeugungsarbeit. Als besonders hilfreich erwies sich dabei die Kooperation mit der Forschungsstelle für interkulturelle Studien an der Universität Köln.

Mit Unterstützung der dort forschenden Experten entwickelte die Rektorin der KGS das Konzept für die Schulzusammenlegung. Eine interkulturelle Grundschule sollte entstehen.

Im Sommer 2003 war es dann so weit. Alle Klassen wurden neu aus Schülern der GGS und der KGS zusammengesetzt. Bei der Klassenbildung wird nun genau auf die richtige Zusammensetzung geachtet. Ziel ist es, möglichst heterogene Klassenverbände zu bilden, in denen leistungsstarke Kinder die Schwächeren anspornen und mitziehen.

Muttersprachliche Kompetenz erhöht Bildungschancen

Heute stammen 47 Prozent der 325 Schüler der KGS aus Familien mit Migrationserfahrung. Die große Mehrheit dieser Kinder hat einen arabisch-muslimischen Familienhintergrund. Deswegen wurde zum einen ein Islamkundeunterricht für die muslimischen Schüler eingeführt.

Zum anderen wurde in den ersten Klassen ein dreistündiger Lese- und Schreibunterricht nach dem Konzept der "Koordinierten Alphabetisierung im Anfangsunterricht", kurz KOALA, eingeführt.

Diese Unterrichtsstunden werden von einer Deutschlehrerin und einer Arabischlehrerin gemeinsam in einer Klasse mit deutschen und nicht-deutschen Kindern gestaltet. Das muttersprachliche Wissen, über das die Kinder aus Migrantenfamilien bereits verfügen, erfährt hier Würdigung.

Außerdem zeigen Untersuchungen, dass Kinder, die gute Sprach- und Schriftkenntnisse in ihrer Erstsprache mitbringen, eine Zweitsprache besser und leichter erlernen können.

Wechselvoller Unterricht

Die Schüler jedenfalls sind voll dabei. Sie scheinen sichtlich Spaß an ihrer KOALA-Stunde zu haben. Begonnen wird auf Deutsch mit einem Lied. Dann werden gemeinsam einige Sätze gelesen. Während die Deutschlehrerin unterrichtet, wacht die Arabischlehrerin darüber, dass keines der Kinder geistig abschaltet. Nach rund 20 Minuten wird dann gewechselt.

Auch auf Arabisch wird gesungen und die Lehrerin schreibt dieselben Sätze, die zuvor bereits auf Deutsch durchgenommen wurden, an die Tafel. Dann liest die Klasse sie gemeinsam.

Sowohl im deutschen als auch im arabischen Teil des Unterrichts werden alle Kinder aufgefordert mitzumachen – und so mancher deutsche Schüler hat sich auf diese Weise bereits einen Grundstock an arabischen Vokabeln angeeignet.

Veränderte Wahrnehmung

Im Zuge des KOALA-Konzepts, das u.a. an Berlins Grundschulen bereits weit verbreitet ist, habe sich der Blick der Lehrer auf die Schüler geändert, fasst Annie Kawka-Wegmann ihre bisherigen Erfahrungen zusammen.

Weniger die sprachlichen Defizite der Kinder stünden im Mittelpunkt, als die Fähigkeit der Kleinen, sich bereits in zwei Sprachen ausdrücken zu können. Und auch die deutschen Schüler hätten mittlerweile Hochachtung vor den Leistungen ihrer nicht-deutschen Mitschüler.

Wichtig ist der Rektorin, dass sich der Respekt vor dem "Anderen" im Schulalltag widerspiegelt und dass Eltern und Schüler Vertrauen zu ihrer Schule haben. Von Zwang und Konfrontation hält sie nichts. Es gebe immer einen „dritten Weg“, so Kawka-Wegmann und diesen gelte es gemeinsam auszuloten.

Sie ist davon überzeugt, dass eine Öffnung der Migranten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft erleichtert wird, wenn man auch ihnen ein Stück weit entgegen kommt.

So wird der Sexualkundeunterricht in der dritten Klasse beispielsweise für Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet. Auch mit Photos und Ansichtsmaterialen zum Thema wird Zurückhaltung geübt, ohne dabei inhaltlich Zensur zu üben.

"Gemeinschaft wagen"

Die Neuorientierung der KGS geht jedoch weit über den im engeren Sinne schulischen Bereich hinaus. Deutschkurse für Mütter gehören hierzu, ebenso wie Computerkurse, die bald angeboten werden sollen.

Sehr erfolgreich hat sich die Initiative eines wöchentlichen "Teetrinkens für Mütter" entwickelt. Hier haben deutsche und nicht-deutsche Mütter Gelegenheit, sich gegenseitig besser kennen zu lernen und ihre Hemmschwellen gegenüber dem "Anderen" abzubauen.

Bei allen Bemühungen der Rektorin sind Missverständnisse jedoch nicht immer vermeidbar. Ihr Vorschlag "muslimische Elternabende" zu schaffen, um die Ansichten der muslimischen Eltern besser kennen zu lernen, habe bei denen beispielsweise zunächst den Eindruck von Diskriminierung erweckt und Entrüstung hervorgerufen. Dabei war genau das Gegenteil beabsichtigt gewesen.

So stellt der interkulturelle Schulalltag alle Beteiligten immer wieder vor Herausforderungen. Kompromisse müssen gefunden werden, Standpunkte erklärt und Missverständnisse geklärt werden.

Das erfordert viel Zeit und Kraft. Dennoch wäre zu wünschen, dass sich mehr Schulen dem Mehlemer Motto "Gemeinschaft wagen" anschließen würden. Ein Unterrichtstag in Mehlem zeigt: die Mühe lohnt sich.

Susan Javad

© Qantara.de 2006

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