Ein Rucksack für junge Mütter
Eine Grundschule in Köln-Mülheim: Hier gehen über 360 Kinder in die erste bis vierte Klasse. Über 60 Prozent der Kinder kommen aus Migranten-Familien, über 30 Nationen sind hier vertreten. Die meisten Kinder sind türkischer Herkunft. Der Stadtteil hat eine lange türkische Einwanderer-Tradition, hier gibt es alles auf Türkisch, nicht nur Lebensmittelgeschäfte und türkische Cafés, sondern auch Rechtsanwaltskanzleien und Steuerberater.
Wer nicht deutsch spricht oder schreibt, kann hier gut leben, ohne dass er Schwierigkeiten mit der Sprache bekommt, sagen Anwohner, die örtlichen Integrationsbeauftragten und Lehrer wie Hartmut Dziedo.
Der 37-Jährige ist Schulleiter an der Grundschule "Mülheimer Freiheit", die idyllisch am Rhein gelegen ist. Der ambitionierte Pädagoge weiß, was es bedeutet, eine integrative Schule mit hohem Migrationsanteil zu führen: "Zwar sind unsere Fördermöglichkeiten begrenzt, aber wir schöpfen alles aus, was wir können. Wir haben Sonderpädagoginnen, Jahrgangs übergreifenden Unterricht, sogar zwei Türkischlehrer."
Schule: Gemeinsamer Sprachenerwerb
Kinder mit türkischem Hintergrund haben nicht nur ein Recht auf Muttersprachenunterricht, so Dziedo, die Förderung ist vor allem aus einem anderen Grund wichtig:
"Weil wir dann die Transferleistung in die deutsche Sprache machen können. Wenn die Kinder keine der Sprachen richtig beherrschen, dann wird es für uns ganz schwer. Der Unterricht in türkischer Sprache dient dem Deutsch lernen und der kulturellen Identität von den Menschen, die hier leben." Und daher lernen die Kinder in seiner Schule durch koordiniertes Lernen, wie man Deutsch und Türkisch als Sprachen verbinden kann.
Im Alltag bleibt Förderung Theorie
Zuhause sieht die Praxis meist anders aus. Viele Mütter der Grundschulschüler leben zwar seit vielen Jahren in Deutschland, sprechen aber kaum deutsch. Das Sprachproblem führt dazu, dass sie vom Schulalltag ihrer Kinder ausgeschlossen werden. Sie können sich mit den Lehrern kaum verständigen, ihren Kindern bei den Schularbeiten nicht helfen, deren Sprachkenntnisse somit wiederum nicht verbessern.
Ein Kreislauf ohne Ausweg – und ein Phänomen der Heiratsmigration: Die Väter der Kinder sind zwar in Deutschland aufgewachsen und sprechen sehr gut deutsch, meist aber heiraten sie eine türkische Frau in der Türkei und holen sie dann nach Deutschland.
"Diese Mütter sprechen kaum deutsch und sind gehemmt. Jedes Mal, wenn es um wichtige Sachen in der Schule geht, wird der Vater geschickt, der gut deutsch kann. Die Mutter erreichen wir nicht", schildert Schulleiter Dziedo fast hilflos. Fundament für Sprachprobleme, die seit der ernüchternden Pisa-Studie deutschlandweit immer wieder die bildungspolitischen Debatten anstoßen.
Hausaufgaben für türkische Mütter
Daher hat sich die Grundschule in Mülheim seit kurzem etwas Besonders einfallen lassen – das "Rucksackprojekt". Die Idee: eine türkischstämmige Mutter, die deutsch und türkisch perfekt beherrscht, unterrichtet einmal in der Woche andere türkische Mütter und fungiert so als Mittlerin zwischen Eltern und Schule.
Während ihre Kinder in ihren Klassenräumen Mathe und Deutsch pauken, sitzen zehn Mütter in der Schule einen Vormittag lang zusammen. Die Mütter, die freiwillig gekommen sind, erfahren unter Anleitung von Nezive Omalar, selbst Mutter einer Schülerin, was ihre Kinder in der Schule gerade durchnehmen, sprechen über gesunde Pausenmahlzeiten oder Zahnpflege.
Am Ende bekommen die Mütter Hausaufgaben mit, die angelehnt sind an den Schulstoff ihrer Kinder. Weil diese Aufgaben fast alle auf Türkisch sind, können die Frauen sie auch gemeinsam mit ihren Kindern bearbeiten. Außerdem war Nezire Omalar, die in dem Bildungsprojekt die Rolle der "Stadtteilmutter" einnimmt, mit den Müttern schon in der Stadtbibliothek oder bei der Familienberatungsstelle.
Damit nimmt die Betreuerin den Frauen die Angst vor behördlichen Einrichtungen. "Alleine ein Bibliotheksausweis für die Kinder zu haben, ist ein unschätzbarer Vorteil für die Mütter und ihre Kinder", weiß Nezire Omalar aus eigener Erfahrung.
Sie sieht die großen Fortschritte, die die jungen Mütter machen - es sind Schritte aus der Isolation: "Die Frauen sind ja nicht stolz darauf, dass sie sagen müssen: Ich lebe seit 20 Jahren hier und spreche kein deutsch. Das ist für manche unbegreiflich. Aber es ist eine traurige Tatsache."
Einfaches Prinzip mit großer Wirkung
Die studierte Psychologin, die auch Migrantenfamilien betreut, ist von dem Rucksackprojekt überzeugt, weil es an der richtigen Stelle ansetzt. Die Mütter lernen vor allem, mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln, ihre Ohnmacht zu überwinden und eigene Kompetenzen einzubringen, so Nezire Omalar.
Man dürfe nicht vergessen, dass viele Mütter aus Familien stammen, in denen Analphabetismus weit verbreitet ist und wo Bildung zudem einen anderen Stellenwert habe. Weil die Treffen während des Unterrichts ihrer Kinder in der Schule stattfinden, haben die Mütter auch die Möglichkeit, daran teil zu nehmen.
"Der einzige Ort, wo die Frauen Kontakt zur deutschen Gesellschaft haben, ist die Schule und der Kindergarten. Solche Projekte müssen auch dort ansetzen, am besten schon im Kindergarten", plädiert Stadteilmutter Omalar.
Die Idee des Rucksackprojektes kam aus Essen. Dort hat man das Modell bereits an zehn Schulen eingerichtet, über 100 Rucksackprojekte sind bislang in NRW entstanden. In anderen Bundesländern gibt es diese Initiative bislang nur vereinzelt.
In Köln haben derzeit zwei Grundschulen auf Initiative des Integrationsrats, des Schulamtes und anderer Organisationen, wie der Regionalen Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien, das Förderprojekt eingeführt.
Doch die Initiatoren hoffen, dass das Rucksackprojekt einmal flächendeckend an Schulen und Kindergärten angeboten wird. Denn der Dialog zwischen Schule und Migranten führt zu großen Erfolgen bei der Integration und in der Schulbildung, wie die Grundschule in Köln-Mülheim gezeigt hat.
Petra Tabeling
© Qantara.de 2005
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