"Wir brauchen die Öffnung der Grenzen"

Seit Juni 2007 ist der Gazastreifen von Israel abgeriegelt. Karen Koning AbuZayd, Leiterin des UN-Hilfswerkes für palästinensische Flüchtlinge, äußert sich im Gespräch mit Alexander Kudascheff zur humanitären Situation dort.

Nahrungsmittel werden im Gaza Streifen verteilt; Foto: AP
In Gaza herrscht Mangel: Es fehlt an Treibstoff, Strom und Wasser

​​Frau Generalkommissarin, Sie leben und arbeiten in Gaza, wie ist die Situation dort?

Karen Koning AbuZayd: Die Situation ist im Moment sehr schlecht. Eigentlich schon seit Ende Oktober 2000, seit Beginn der Intifada. Es wurde schlimmer, als Hamas die Wahl 2006 gewann, und die Situation verschlechterte sich weiter mit den internen Machtkämpfen seit letztem Juni, und der Abriegelung Gazas.

In der vergangenen Woche verschlimmerte sich alles ein weiteres Mal, es gibt keinen Treibstoff mehr und jetzt haben wir auch noch Probleme mit Strom, Wasser und Abwasser.

Brauchen Sie dort schnelle humanitäre Hilfe?

AbuZayd: Wir haben zwar humanitäre Hilfe: Israel und die israelische Armee garantieren, dass Medikamente und Lebensmittel hereinkommen. Aber die Menschen können nach all diesen Jahren nicht mehr nur von dieser Hilfe leben. Sie brauchen mehr – vor allem in Gaza.

Das bedeutet, die Menschen brauchen zunächst eine politische Lösung – sagen wir, einen Waffenstillstand?

AbuZayd: Man spricht nicht von Waffenruhe, sondern nennt es schon Ruhe, wenn die Palästinenser keine Raketen abfeuern, wenn die Israelis nicht angreifen oder einmarschieren oder Menschen aus der Luft beschießen.

Diese Tage halten aber nie lange an. Was wir vor allen Dingen brauchen ist die Freiheit, sich zu bewegen und die Öffnung der Grenzen. Die gesamte Privatwirtschaft ist zusammengebrochen, weil keine Rohstoffe mehr hereinkommen und auch keine Waren exportiert werden können. 75.000 Menschen sind dadurch seit letztem Juni zusätzlich arbeitslos geworden.

Sehen Sie einen politischen Willen Israels, das Embargo aufzuheben?

AbuZayd: Nein, denn sie stellen Bedingungen. Sie sagen, der Raketenbeschuss, die Schießereien müssen aufhören, der interne Machtkampf muss enden. Sie stellen Hamas Bedingungen, um mit ihnen reden zu können. Aber es muss jetzt geschehen, dass alle Parteien an Gesprächen teilnehmen, um eine Lösung zu finden.

Sehen Sie bei der Hamas denn den Willen, die Angriffe zu stoppen?

AbuZayd: Nun, wir hören schon, dass es den Willen gibt, auch einige Versuche. Oft sind es andere kleine Gruppen, die die Raketen abschießen, dann passiert etwas, und Hamas beteiligt sich auch. Es scheint mir so, als ob beide Seiten sich immer wieder gegenseitig reizen.

Ist die Situation im Westjordanland besser?

AbuZayd: Sie ist etwas besser. Immerhin ist dort mehr Platz. Die Menschen können ein- und ausreisen, unter Schwierigkeiten, aber mit Genehmigungen auch nach Israel und nach Jordanien. Aber auch im Westjordanland ist die Situation sehr schwierig, was oft übersehen wird.

Es gibt einige Oasen wie Ramallah, die scheinbar ganz gut funktionieren, wo die wirtschaftliche Lage relativ stabil ist. Es gibt aber sehr viele Probleme durch die Mauer, den Ausbau der Siedlungen, durch die vielen Checkpoints und Straßensperren – es sind mehr als 500 – sie zerteilen das Westjordanland. Dies lässt uns zweifeln an der Lebensfähigkeit eines Staates, der auf einem Gebiet entstehen soll, das von der Gegenseite kreuz und quer durchzogen wird.

Karen Koning AbuZayd; Foto AP
Es sei wichtig, die Palästinenser und die palästinensischen Flüchtlinge über die politischen Entwicklungen zu informieren, so AbuZayd.

​​Sie sind verantwortlich für alle palästinensischen Flüchtlinge. Wie ist deren Situation in Syrien, Libanon und Jordanien?

AbuZayd: In Jordanien sind die palästinensischen Flüchtlinge Staatsbürger, sie genießen alle Rechte wie andere Bürger auch. In Syrien sind sie keine Staatsbürger, haben aber das Recht zu arbeiten und auch zur Universität zu gehen.

In diesen Ländern haben wir die Möglichkeit, den Menschen ganz anders zu helfen. Das können wir, weil wir das Geld nicht für humanitäre Krisen ausgeben müssen. Im Libanon ist die Situation anders, dort ist es schon immer sehr schwer für palästinensische Flüchtlinge gewesen, viel schlimmer als irgendwo anders.

Aber seit Premierminister Siniora im Jahr 2005 die Regierung übernahm, hat sich etwas geändert. Die Palästinenser können sich jetzt außerhalb der Lager Arbeit suchen, und wir können in den Lagern die Lebensbedingungen verbessern.

Eigentlich weiß jeder, wie eine politische Lösung im Nahen Osten aussehen könnte. Sehen Sie irgendeine Chance für den Annapolis-Prozess?

AbuZayd: Nun, was ich von Annapolis erwarte ist, dass bis Ende des Jahres zumindest Lösungsmöglichkeiten für einige strittige Fragen vorgeschlagen werden. Einige davon sind sehr kompliziert, wie etwa die Flüchtlingsfrage, Jerusalem, die Grenzfrage, die Wasserversorgung.

Wichtig ist es aber auch, die Palästinenser und die palästinensischen Flüchtlingen zu informieren über die Entscheidungen, die ihr Leben betreffen werden. Was wir sehen möchten ist, dass alle zusammen an einem Verhandlungstisch sitzen und wir davon erfahren.

Interview: Alexander Kudascheff

© Deutsche Welle 2008

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