Theater als Mittel der Integration
Herr Kadour, wo sind Sie aufgewachsen?
Wael Kadour: Ich wurde 1981 in Damaskus geboren. Meine Eltern hatten keinerlei Theaterkenntnis: Ich komme aus einer ziemlich konservativen und gläubigen Familie. Mein Vater war Fahrer, meine Mutter Krankenschwester und dann Hausfrau und ich bin mit zwei Brüdern und einer Schwester aufgewachsen – eine typische Situation für die Mittelklasse. Meine Eltern waren nach Damaskus gekommen, um dort zu arbeiten und zu heiraten. Beide kamen aus einem Dorf vom Land, hundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Dieses Dorf ist auch ein Teil meiner Wurzeln, ich bin sehr oft dort gewesen, auch wenn ich die meiste Zeit meines Lebens in der Stadt verbracht habe.
Wie sah die Theaterausbildung in Damaskus aus?
Kadour: Mein Studium in Theater und Kritik war sehr theoretisch, wir hatten aber auch Zugang zu einer ganz praktischen Seite: Wir haben an Projekten mit Studenten aus anderen Studiengängen zusammengearbeitet und sind sehr häufig zu Theateraufführungen gegangen. In Syrien habe ich zehn Jahre lang im Theater gearbeitet. Dieses Jahrzehnt hat sich auch als ein sehr wichtiges für das Land erwiesen, da vor dem Jahr 2000 die Theaterszene vom Ministerium für Kultur dominiert und gänzlich durch staatliche Förderungen finanziert wurde.
Als meine Freunde und ich 2005 unser Diplom abgeschlossen hatten, konnten wir dennoch von einer neuen Öffnung profitieren, die meiner Generation ein eigenverantwortliches Arbeiten ermöglichte. Wir konnten Fördermittel bekommen, nicht zuletzt kleine, regionale Beihilfen von verschiedenen Einrichtungen. Wir hatten zahlreiche Gründe nicht mit dem Ministerium für Kultur zusammenarbeiten zu wollen - Verwaltungsaufwand, Zensur, niedrige Gehälter - die finanziellen Bedingungen für künstlerische Aktivitäten waren nicht günstig.
nwiefern waren Sie mit Ihren Theaterproduktionen der Zensur ausgesetzt?
Kadour: In Hinblick auf Publikationen und öffentliche Lesungen. Ich musste stets meine Stücke den zuständigen Kulturbehörden vorlegen. Nichtsdestotrotz verlief das in der Regel für mich gut, zumal es in jener Zeit in diesem Bereich eine Öffnung gab. Die Zensur war ein bisschen weniger streng.
Welche Themen lagen Ihnen denn in jener Zeit besonders am Herzen?
Kadour: Ich habe zwei Stücke vor der Revolution geschrieben: Le Virus und Hors de contrôle. Beide beschäftigen sich mit den Themen Angst und der Mittelklasse. Außerdem geht es in meinem Stück Hors de contrôle es um Ehrenmorde, die es im Mittleren Osten gibt – sowohl in Syrien, als auch im Libanon: Darin geht es um die Geschichte eines jungen Mannes vom Land auf dem Weg in die Stadt, um dort seine Schwester zu suchen und schlussendlich zu töten, weil sie einen Mann geheiratet hat, der einer anderen Religion angehört. In der Regel werden Verbrechen dieser Art bei uns nicht gesetzlich geahndet, solange der Anwalt beweisen kann, dass sie auf Ehre gründen.
Haben Ihre Stücke neben dieser Art von Gesellschaftskritik auch politische Botschaften?
Kadour: Vor der Revolution in Syrien konzentrierte ich mich ganz allgemein eher auf soziale, als auf politische Themen. Doch wenn man heute meine Stücke liest, kann man die damaligen politischen Umstände erkennen und nachvollziehen. Meine Geschichten waren zumeist recht einfach gestaltet, darin ging es in der Regel um Liebe, Hass und gesellschaftliche Missstände, die aber auch eine unterschwellige politische Dimension hatten.
Hatten Sie vor der Revolution den Eindruck, dass das unabhängige Theater ein Publikum fand?
Kadour: Meiner Meinung nach hat die Kulturszene in Damaskus nicht sehr viel zu bieten. Wir hatten nur drei oder vier Theater, wo es Aufführungen gab, die nur während einer, zwei, höchstens drei Wochen stattfanden. Die Anzahl der professionellen Theaterleute und Kulturakteure war sehr gering und die Besucherzahl war auch sehr begrenzt. Oft sah man immer nur dieselben Gesichter. Dann wurde Damaskus 2008 zur arabischen Kulturhauptstadt gewählt, ein nationales Großereignis.
Damals wurden sehr große finanzielle Mittel hierfür bereitgestellt, es gab einen Ausschuss für die Organisation der Veranstaltungen, ohne die Einmischung des Ministeriums für Kultur. Wir hatten mit diesem Ausschuss kooperiert und erhielten auch Fördermittel. Das Regime wollte der ganzen Welt zeigen, dass es in Syrien eine dynamische Kulturszene gab. 2008 wurden auf einmal Hunderte Konzerte, Ausstellungen, Aufführungen und Filme präsentiert… Das alles war zum Teil nichts anderes als ein schöner Schein, und nach 2008 war denn auch alles verschwunden. Eine längerfristige Perspektive gab es nicht.
Wie hat das Publikum auf die Flut der neuen Stücke der Jahre 2000 reagiert?
Kadour: Man hat uns beobachtet, manchmal auch angegriffen. Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, glaube ich, dass das vielleicht ein Indikator für grundlegendere gesellschaftliche Veränderungen war. Es ist ja kein Zufall, dass wir zehn Jahre vor der Revolution mit dem Schreiben begonnen haben. Ich glaube, wir waren das Resultat eines langen sozialen und politischen Prozesses, aber das war uns in jenem Moment noch nicht bewusst.
Hat Sie die Revolution in Syrien überrascht?
Kadour: Ich glaube, sie hat alle überrascht, doch gleichzeitig gab es immer auch die Einsicht in die Notwendigkeit einer Revolution. Wir waren schließlich kein säkulares Land, was auch immer Baschar al-Assad und sein Vater zu sagen pflegten. Gewiss hatte unser Präsident sein Studium in Großbritannien absolviert, sprach allerlei Fremdsprachen, aber in jener Zeit hat das Regime kein einziges Theater gebaut! Stattdessen wurde die Errichtung von immer mehr Moscheen erlaubt. Bedingt durch ein unvollkommenes Bildungswesen haben sie die Verbreitung von Unwissenheit gefördert.
Nach der Revolution hat Baschar al-Assad versucht die Welt davon zu überzeugen, dass nur er den Terrorismus wirklich bekämpfen könne. Die Europäer haben heute Angst vor dem "Islamischen Staat". Auch ich habe auch Angst davor, aber man darf doch nicht vergessen, dass alles nach und nach passiert ist, über lange Jahre hinweg, damit Syrien zu einer Brutstätte für Islamisten, Extremisten und Unwissende wird. Als die Revolution ihren Anfang nahm, waren wir zunächst nur friedliche Demonstranten auf der Straße. Heute haben wir es immer noch mit einer Diktatur zu tun, wobei jetzt noch zahlreiche extremistische Gruppen dazukommen sind.
Hat das Theater zu Beginn der Revolution eine Rolle gespielt?
Kadour: In den Gebieten, die vom Regime kontrolliert wurden, nein. Als die Revolution begann, arbeitete ich gerade an einem Stück von Beckett, Ohio Impromptu. Wir haben zunächst weitergemacht. 2011 und 2012 haben dann viele Leute in den befreiten Zonen neue Theaterformen hervorgebracht. Sie haben Geschichten erfunden, die in direktem Zusammenhang mit der Revolution standen. Sie wollten einfach ihre Geschichten erzählen, vom Regime sprechen. Ich habe diese Gebiete nie erreicht, weil ich flüchten musste: Mein Militärdienst rückte immer näher, ich hätte auf Seiten des Regimes kämpfen müssen und hatte davor große Angst. Die Revolution begann im März 2011, im November floh ich nach Jordanien, meine Frau kam zwei Wochen später nach.
Sie haben mit Flüchtlingen an Theaterprojekten gearbeitet. Wie entstanden diese Projekte?
Kadour: Einige NGOs hatten mich damit beauftragt, Theater-Workshops für Flüchtlinge zu organisieren, insbesondere für Kinder und Jugendliche - entweder in den Lagern, oder auch außerhalb. Ich habe auch manchmal aus eigener Initiative gearbeitet, zugleich an syrischen und jordanischen Projekten. Ich habe versucht mit beiden Gruppen zu arbeiten, da ich nicht als Opfer dastehen wollte.
Wie wurde das Theater in diesem Zusammenhang aufgenommen?
Kadour: Ich wollte vor allem den Syrern und der lokalen Bevölkerung helfen, miteinander zu leben. Ich bin der Ansicht, dass Theater den Menschen helfen kann, sich besser zu verstehen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt herrschte wirklich Hass zwischen der ansässigen Bevölkerung und den Flüchtlingen. Schließlich waren alle arm und die Jordanier wollten nicht, dass die Syrer ihnen die Arbeit wegnehmen. Ich habe den Ansatz aus dem "Theater der Unterdrückten" von Gustavo Boal gewählt, dem bekannten brasilianischen Theaterregisseur. Wir haben interaktives Theater und Spiele organisiert und haben gemeinsam Stücke geschrieben, damit alle sich wohlfühlen und wieder Vertrauen zueinander finden. Aus dieser Arbeit haben sich viele Freundschaften entwickelt. Sie war ein Mittel der Integration.
Hat Sie diese Zeit als Autor verändert?
Kadour: Natürlich. Ich konzentriere mich weiterhin auf soziale Geschichten, aber die dramaturgische Bearbeitung ist vollkommen anders ausgestaltet. Meine Arbeit hat an Tiefe und an Verständnis der Zusammenhänge gewonnen. Ich musste meine Wahrnehmung der syrischen Identität, und den genauen Sinn dieser Identität, neu bewerten.
Wie war bislang die Reaktion des europäischen Publikums auf das syrische Theaters, nachdem Sie nach Frankreich gekommen sind?
Kadour: Die meisten Zuschauer richten den Blick eher auf politische Fragen als auf die künstlerische Dimension der Stücke. Sie fürchten sich vorm "Islamischen Staat" und fragen mich dann: Was würde passieren, wenn Assad ginge? Sie sprechen mich an wie einen Politiker. Das ist zwar gewiss verständlich, und ich versuche auch Ihnen eine Antwort zu geben, aber ich bin eben nur ein Theaterautor. Ich kann von meiner eigenen Erfahrung erzählen und ich kann allein sagen, wenn es heute in Syrien Extremisten gibt, dann liegt das am Regime. Da bin ich sicher. Im ersten Jahr der Revolution hat die Regierung Hunderte von Extremisten aus den Gefängnissen entlassen. Das Regime hat das Monster genährt.
Wie gehen Sie als Autor und Dramaturg mit diesen Erwartungen um?
Kadour: Man muss die Stereotypen in Frage stellen. Jeder hat Gemeinplätze, Klischees im Kopf und es ist wichtig einen anderen Teil der Geschichte zu erzählen, mutig zu sein, zu hinterfragen anstatt die alten Antworten zu geben. Das ist der eigentliche Sinn der Kunst: zu hinterfragen.
Das Interview führte Laura Cappelle.
© Goethe-Institut 2018
Aus dem Französischen von Katharina Bader