"Wir Roma sind mehr als nur Unterhalter"
Der Istanbuler Stadtteil Kasımpaşa, in dem Sie leben, ist einer der wenigen verbliebenen Orte in Istanbul, in dem eine große Roma-Bevölkerung lebt. Das Viertel gilt als etwas heruntergekommen und nicht ungefährlich. Was bedeutet es für Sie, dort zu leben?
Ayhan Küçükboyacı: Kasımpaşa hat etwa 800.000 Einwohner. Ungefähr 250.000 davon sind Roma, die anderen sind "Gaco" – so nennen wir die Nicht-Roma. Meine Vorfahren kamen aus Thessaloniki über Zonguldak am Schwarzen Meer hierher. Ich selbst bin im Viertel Hacıhüsrev in Kasımpaşa geboren und aufgewachsen und habe nie woanders gelebt.
Früher hörte man hier auf den Straßen Griechisch, Armenisch oder verschiedene Roma-Sprachen. Und bis heute leben hier immer noch die unterschiedlichsten Menschen. Kasımpaşa ist ein Lebensgefühl. Es bedeutet, mit Freunden ins Kino zu gehen und diejenigen, die Geld haben, bezahlen für diejenigen, die eben keines haben. Hier kannst du in einem Laden anschreiben lassen und keiner fragt, wann du deine Rechnung begleichst. Kasımpaşa bedeutet für uns Brüderlichkeit. Mich inspiriert der Ort und das fließt auch in meine Musik ein.
Haben Sie das Gefühl, Ihre Roma-Kultur noch frei praktizieren zu können?
Küçükboyacı: Wir erhalten die Kultur, die uns verbindet und durch die wir Freud und Leid teilen. Aber wenn wir ehrlich sind, können wir in der Öffentlichkeit nicht einmal unsere eigene, eigentliche Musik machen, die wir privat für uns spielen. Hier assoziiert man Roma immer mit heiterer Tanzmusik, mit Spaß. Aber wir haben auch unseren Schmerz, unsere Leidenschaft, unsere Liebe, unseren Sex. Der drückt sich zum Beispiel im 9/8 Rhythmus aus. Wir nennen das "schwerer Roma". Aber auf der Bühne müssen wir immer fröhlich sein und Bauchtanz machen.
Sehr viele Roma lebten im Viertel Sulukule, im Istanbuler Stadtteil Fatih, der ältesten Roma-Siedlung der Welt. Als Sie 2010 im Zuge des sogenannten "urbanen Transformationsprojekts" abgerissen wurde, mussten die Roma den Ort verlassen. Wie haben Sie den Prozess erlebt?
Küçükboyacı: Sulukule war eine sehr ernste Angelegenheit. Sie dürfen nicht vergessen: Unser Volk hat das erlebt, was wir "Porajmos" nennen, den Völkermord an den europäischen Roma in der Zeit des Nationalsozialismus. Wir spürten, dass seit 2004 ein großer Finger auf Sulukule zeigte und unser erster Gedanke war: Werden wir womöglich von hier vertrieben? Die Menschen, die dort lebten, waren sehr arm und wussten nicht, dass sie für ihre Rechte hätten kämpfen sollen. Ich denke, wir haben auch eine soziale Verantwortung und deshalb organisierten wir damals Informationsveranstaltungen. Wir informierten Anwohner, Hausbesitzer und Mieter über ihre Rechte und ermutigten sie, diese einzufordern.
Doch vergeblich. Man verfrachtete sie an einen Ort, der sich Taşoluk nennt und 70 Kilometer von ihrem eigentlichen Zuhause entfernt liegt. Dort gibt es nicht einmal eine Bäckerei. Kaum einer blieb dort, die Menschen kehrten zurück und leben heute verstreut im Land. Aber auch einige der ehemaligen Bewohner haben sich falsch verhalten. Sie haben sich an den Immobilien bereichert und sich gegenseitig übers Ohr gehauen. Heute stehen in Sulukule neue Reihenhäuser im Wert von mehreren Millionen US-Dollar. Da fragen wir natürlich, was das Ganze soll!
Sulukule hat eine Welle der Solidarität erfasst. Und das Verwaltungsgericht entschied nachhinein, dass der Abriss des Viertels illegal war. Heute gibt es in der Türkei den ersten Roma Abgeordneten. Haben Sie das Gefühl, dass sich die Einstellung gegenüber Roma in der Türkei in den letzten Jahren verändert hat?
Küçükboyacı: Vielleicht etwas, aber die meisten Menschen wissen noch immer sehr wenig über uns. Zum Beispiel waren die Roma im Osmanischen Reich anerkannt. So gab es in der Provinz Rumeli die administrative "Zigeuner-Division". Roma waren häufig zuständig für den Bau von Straßen und Tunneln. Wir waren maßgeblich daran beteiligt, dass sich das Osmanische Reich bis nach Europa ausbreiten konnte. In Europa bezeichnete man uns dann als "türkische Spione" und wir wurden auch dort ausgegrenzt. Aber unsere Leute gehen auch gerne den leichten Weg. So wollte Sultan Abdülhamit II., dass alle Roma Lesen und Schreiben lernen. Aber unsere Leute wollten nicht. Sie fragten "Wieviel Geld bekommen wir dafür?".
Es gibt nicht viele Bücher über die Roma-Kultur in der Türkei und die, die es gibt, haben die Meinung der Menschen über uns geprägt. In ihrer Wahrnehmung kommen wir aus Indien, stehlen und machen fröhliche Musik. Doch tragen wir auch Mitschuld an dieser Wahrnehmung. Nehmen wir das Beispiel Sulukule: Die Menschen besuchten den Ort vor allem wegen des Nachtlebens. Sie tranken Rakı, aßen gut und die Mädchen übten sich im Bauchtanz. Aber mit der Zeit wurde es dort immer schlimmer, immer unmoralischer. Ein anderes Beispiel: Während der Widerstandsbewegung "40 Tage, 40 Nächte Sulukule" reiste eine Delegation von uns nach Ankara, um den Staatspräsidenten zu treffen. Vor den Fernsehkameras veranstalteten sie dann Bauchtanz. So etwas macht mich zornig. Wir sind mehr als nur Unterhalter!
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Küçükboyacı: Wir haben viel Leid erfahren, und ich setze mich dafür ein, dass sich die Wahrnehmung der Roma verändert. Deswegen habe ich auch das Buch "Die Roma gestern und heute" geschrieben. Die Welt verändert sich und wir müssen uns mit ihr verändern. Immer wieder werden Roma vertrieben, so beispielsweise in Istanbul in Stadtvierteln wie Kağıthane oder Gaziosmanpaşa, aber auch in anderen Städten wir Izmir oder Manisa. Es reicht!
Was uns aber vor allem fehlt, ist Bildung. Wir müssen den folgenden Generationen etwas geben können. Früher haben die Männer zum Beispiel Papier gesammelt, das wiederverwertet wurde. Ihre Enkel sollen bessere Berufe ausüben, sollen studieren können. Die Türkei hat über 70 Millionen Einwohner.
Die Zahlen der Roma mit ihren verschiedenen Untergruppen wie Dom und Lom variieren zwischen 750.000 bis ein paar Millionen. Wie viele von ihnen absolvieren jährlich eine Universität? Vielleicht 150. Viele schämen sich ihrer Identität. Wenn die Menschen hören, du bist Roma, behandeln sie dich so, als hättest du die Pest. Das muss sich ändern. Wir wollen nicht mehr, dass man uns nur mit Musik, Tanz und Vergnügen in Verbindung bringt.
Das Interview führte Ceyda Nurtsch.
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