Kotzen, bis die Revolution ausbricht
Seit dem Sturz von Mubarak hört man hier in Europa kaum noch etwas von der ägyptischen Revolution. Wieviel Elan ist vom Aufstand noch übrig?
Laila Soliman: Die Zahl der Demonstranten ist nicht mehr so groß wie in den ersten 18 Tagen, weil die Leute unterschiedlich informiert und unterschiedlicher Meinung sind, wo jetzt die Prioritäten liegen. Deshalb hat sich der Widerstand in unterschiedliche kleinen Kämpfe und Widerstände geteilt – was dem generellem Widerstand natürlich nicht viel nützt.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in Ägypten?
Soliman: Zurzeit entstehen viele Parteien. Einige scheinen interessant zu sein. Man wartet darauf, wie sie sich präsentieren. Die Situation ist fragil, weil alles neu für uns ist: die Parteien, das Verhältnis zur Übergangsregierung und zum Militär. Welche Rolle spielt wer? Was darf man machen, was darf man nicht machen? Es ist eine Art Probezeit bis zu den Wahlen, obwohl ich ein bisschen pessimistisch bin.
Seit dem Sturz Mubaraks am 11. Februar wird über die Armee und vor allem den Hohen Militärrat geschwiegen. Das Militär hat seine eigene Zensur. Und die Journalisten sind sehr vorsichtig, was sie schreiben, auch weil sie ihre Leser nicht verlieren wollen.
Natürlich wird jetzt mehr über die Ungerechtigkeiten des Militärs und die Militärverfahren gegenüber Tausenden von Menschen geredet. Auch wir wollen darüber berichten, was die Medien nicht melden. Eines meiner Arbeitsziele ist eine alternative Geschichtsschreibung mit den Mitteln des Theaters. Vor allem jetzt, wo man schon sieht, wie die offizielle Geschichte geschrieben wird.
War das der Anlass für Ihr Stück "Lessons in Revolting", das im Juli in Kairo uraufgeführt wurde?
Soliman: Die 18 Tage der Revolution bis zum Sturz Mubaraks interessieren mich nicht mehr. Unser Stück beginnt zwar mit einem Intro über diese Wochen mit ihren Momenten zwischen Niederlage und Erfolg, doch das war nicht der Auslöser. Ich hatte gar keine Lust, auf die Revolution so zu reagieren, wie sie in den westlichen Medien definiert wird. Das gilt für alle Mitwirkenden. Wir haben uns entschieden, nach anderen Mittel zu suchen, um weiterzukämpfen, weil wir nicht mehr in der gleichen Weise auf der Straße dürfen.
Sind das die Lehren, wie es im Titel Ihres Stücks heißt, die Sie aus der Revolution gezogen haben?
Soliman: Der Titel "Lessons in Revolting" bezieht sich natürlich darauf, was wir gelernt haben und was das Publikum lernen könnte. Revolting ist aber nicht nur im Sinn von Revolution gemeint, sondern im Sinne des Erbrechens, wenn man etwas nicht mehr aushält. Man kann lernen, sich zu erbrechen. Es geht nicht um die romantische Revolutionsmetapher der hoch erhobenen Faust, sondern um die Beziehung von Revolution und Erbrechen. Das entspricht mehr dem, was wir erlebt haben.
Sie arbeiten mit der Filmemacherin Aida El Kashef, der Choreographin Karima Mansour, den Musikern Mustafa Said und Maurice Lourca sowie Aktivisten von der Straße zusammen. Wie kam es dazu?
Soliman: Es sind Leute, die Ruud Gielens, mit dem ich das Stück zusammen inszeniert habe, und ich persönlich kennen. Mit einigen habe ich schon gearbeitet und mit anderen noch nicht. Hauptkriterium für uns war, dass die Leute alle irgendwie den Moment der Revolution im größeren Sinne geteilt haben. Außerdem hatten wir die Idee, mit Künstlern aus verschiedenen Medien zusammenzuarbeiten.
Wie verlief die Zusammenarbeit?
Soliman: Wir haben gesagt, bringt Material mit, das euch wichtig ist, stellt euch unmögliche Szenen vor, die ihr gerne spielen würdet. Aus dem Material haben wir dann das Stück gebastelt. Die kollektive Form ist eher die Arbeitsweise von Ruud Gielens. Es war ein schwieriger Prozess, auch weil jeder seine eigene Ästhetik und Meinung hat.
Wir haben dann entschieden, dass alle Künstler außer mir auch selbst auf der Bühne stehen. Natürlich sieht man die unterschiedlichen Performanceniveaus, aber es sind alle sehr talentierte Menschen auf ihrem Gebiet und deswegen hat es geklappt.
Das Stück setzt sich kritisch mit der Rolle der Armee während des Aufstands, aber auch danach auseinander.
Soliman: Die Armee, das sind die Helden von 1967 und 1973 [den Kriegen gegen Israel], vor denen das Volk größten Respekt hat, als ob sie Engel vom Himmel wären. Die Leute haben dann gesehen, wie sie uns Demonstranten zwar verteidigt, wie sie aber auch bezahlte Schläger auf den Tahrir Platz eingeschleust haben. Inzwischen werden wir immer häufiger geprügelt, wir sind uns nicht mehr so sicher, ob wir alle auf derselben Seite stehen.
Für das normale Volk hat sich die Beziehung zum Militär erst nach und nach verändert. Die Armee versucht, das Image der Demonstranten beim Volk zu zerstören, den Mut der Protestierenden und der Bevölkerung zu brechen; sie verhaftet derzeit Leute nicht nur auf Demonstrationen, sondern auch völlig überraschend, zum Beispiel in der U-Bahn. Die Verhafteten werden oft gefoltert und vors Militärgericht gestellt, während Mubarak und alle anderen Minister ein Zivilverfahren bekommen.
Hatten Sie mit der Zensur zu tun?
Soliman: Zurzeit funktioniert unser Zensurbüro nicht, weil wir eine Übergangsregierung und ein Übergangskulturministerium haben. Daher weiß niemand, nach welchen Regeln sie spielen sollen oder wer die Regeln überhaupt aufstellt. Die Armee hat ihr eigenes Zensurbüro, aber sie halten Theater wahrscheinlich für unwichtig. Sie kümmert sich mehr um Fernsehen, Zeitungen, Blogger und Internetaktivisten. Bisher galten die drei generellen Tabus Religion, Politik und Sex.
Aber letztlich gab es keine festen Regeln. Es hatte mit politischen Wellen zu tun und hing sehr vom jeweiligen Zensor ab. Manchmal bekam man eine konservative Frau und sie meinte, Theater sei eine Sache für die ganze Familie, also durfte man Wörter wie Scheiße oder Kacke nicht sagen. Mir ist in meiner Arbeit aber sehr wichtig, dass die Bühnensprache der Sprache der Straße nahekommt, in der Wahl der Wörter, im Rhythmus, in der Art, wie Gefühle und Ereignisse beschrieben werden, und das hat mir oft Probleme mit der Zensur eingebracht.
Welche Rolle spielt überhaupt die Kunst in der Revolution?
Soliman: Die Straßenkunst erlebt eine Blüte, viele leisten mit ihrer Kreativität Widerstand gegen Medien und Militär. Am Ende unseres Stücks sieht man einen Tänzer mit Plastiktüten in militärischen Tarnfarben auf den Straßen Kairos. Das ist der Graffitikünstler Ganzeer, den die Filmemacherin Aida El Kashef gefilmt hat. Die beiden sind Twitter-Stars. Als sie verhaftet wurden, kamen sofort Hunderte Menschen und die Medien, die über Twitter und Facebook informiert worden waren.
Was ist derzeit das wichtigste für Ägypten?
Soliman: Priorität hat (denkt lange nach) ein gerechtes legislatives System. Davon hängt alles ab. Die Verfassung genauso wie die Polizei oder wie man die Menschen behandelt. Auch das Polizeisystem muss völlig erneuert werden. Die soziale Ungerechtigkeit ist schon groß genug in einem Land mit einer sehr kleinen Mittelschicht. Aber Herren in Uniformen zu haben, das ist wirklich kein Zustand.
Glauben Sie, dass sich in Ägypten grundlegend etwas verändern wird?
Soliman: Hoffnung habe ich. Aber mein Gefühl sagt mir, dass es noch Jahre dauern wird. Ein längerer Kampf, bei dem es wichtig ist, den Leuten die Augen zu öffnen, damit sie ihre ehrgeizigen Ziele nicht vergessen.
Interview: Hans-Christoph Zimmermann
© Qantara.de 2011
Das Interview erschien ursprünglich in der Kölner StadtRevue
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de