Die vorhergesehene Tragödie
Frau Loushy, wie entstand die Idee zu Ihrem Film?
Mor Loushy: Während meines Geschichtsstudiums hat mir ein Dozent das Buch "Siach Lochamim" ("Gespräche mit israelischen Frontsoldaten") empfohlen, das ich 2011 gelesen habe. Kaum jemand aus meiner Generation kennt es, obwohl es zum Kanon der Generation meiner Eltern gehört. Meine erste Reaktion nach dem Lesen war: Wie ist es möglich, dass mir diese anti-militaristischen Stimmen bisher gar nicht bekannt waren? Denn sie standen im krassen Gegensatz zu dem, was ich in der Schule über den Krieg von 1967 studiert hatte. Mich erstaunte, als ich herausfand, wie diese Soldaten aufgrund ihrer Erfahrungen auf dem Schlachtfeld bereits 1967 die Zukunft vorhersahen und verstanden, welche Katastrophe sich da anbahnte und dass Israels Kontrolle über die eroberten Gebiete ein Tragödie darstellte.
Diese Stimmen der Soldaten sind heute relevanter denn je. Ich sah es als meine Aufgabe an, diesen Film zu machen, um meinen Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Ich selbst war Soldatin und ich möchte, dass der Konflikt mit den Palästinenser endet, wir friedlich in zwei Staaten nebeneinander leben und mein Kind in einer Armee des Friedens dienen kann.
Wie kamen Sie eigentlich in den Besitz der Aufzeichnungen, die seit 1967 unter Verschluss sind?
Loushy: Ich habe Monate gebraucht, um Avraham Shapira dazu zu bewegen, mich zu treffen. Er hatte die Tonbänder aufbewahrte. Und Shapira ließ niemanden an die Aufnahmen heran, weil er sich wohl verantwortlich für seine Gesprächspartner von 1967 fühlte. Er wusste, welcher Sprengstoff in diesen Aufnahmen steckt und befürchtete deren Missbrauch.
Schließlich sollte ich ihn in Jerusalem treffen, wo er einen Vortrag hielt. Da ich aber den Bus aus Tel Aviv verpasste und damals schwanger war, fuhr mich meine Mutter mit ihrem Auto hin. Als er mich mit meiner Mutter sah, hat es ihn offensichtlich bewegt, weil er mich in seinen Kibbutz einlud, wo wir uns sechs Stunden lang unterhielten. Erst dann fasste er Vertrauen und gab mir sein Einverständnis.
Welche Erkenntnisse konnten Sie aus diesen historischen Aufnahmen gewinnen?
Loushy: Der Film zeigt die Seele der Menschen im Krieg – und genau das macht ihn so universal. Diese Israelis zogen in den Krieg, um ihr Leben zu retten. Doch sie fanden sich am Kriegsende als Besatzer wieder. Auch ein Sieg kann tragische Folgen haben und wir verlieren täglich den Sieg von damals. Die Frontkämpfer machten eine schwere moralische Krise durch. Einer sagte beispielsweise, dass wenn es im Krieg um die Eroberung der Heiligen Stätten gegangen sei, ihm seine gefallenen Freunde doch viel wichtiger waren.
Welche Aussagensind für Sie die eindringlichsten?
Loushy: Die schwersten Szenen für mich sind die über die Vertreibung und über die künftigen Flüchtlinge. Denn es fällt vielen Israelis sehr schwer zu verstehen, dass diese Tragödie die Grundlage des bis heute andauernden Konfliktes bildet. Auch die Prophezeiung lässt mich nicht los, dass nicht nur ein Krieg, sondern auch das Leben in einem ständigen Konflikt ein Volk zerstören könne. Die Botschaft meines Films lautet daher: "Lasst uns für einen Moment innehalten und über eine bessere Zukunft für unsere Kinder nachdenken!" Israel ist mein Zuhause, hier wächst mein kleiner Sohn Michael auf. Ich habe kein anderes Land als Israel. Durch die Stimmen der Soldaten kämpfe ich letztlich für eine bessere Zukunft meiner Heimat.
Konnten Sie alle historischen Aufnahmen anhören?
Loushy: Ja. Es hat insgesamt acht Monate gedauert, die 200stündigen Gespräche mehrmals zu verfolgen, sie anschließend zu transkribieren und zu entschlüsseln. Ich habe die alten Aufnahmen auch digitalisiert und restauriert.
Wie macht man aus Tonaufnahmen einen Film?
Loushy: Weil ich keinen nostalgischen Film machen wollte, wollte ich Filmausschnitte aus jener Zeit zeigen – zum Beispiel Aufnahmen, die noch nie gezeigt wurden: die Zerstörung arabischer Häuser, die an die Klagemauer in Jerusalem grenzten. Meine größte Sorge war, dass ich nicht genug Filmaufnahmen finde, weil der Krieg nur sechs Tage lang dauerte und 1967 die israelische Fernsehanstalt noch nicht existierte.
Daher recherchierten wir in 30 Archiven auf der ganzen Welt. Dort fanden wir auch Filmmaterial, das noch nie gesichtet wurde. Außerdem gaben uns Menschen, die damals mit ihrer Acht-Millimeter-Kamera in den Krieg zogen, ihre Privataufnahmen.
Haben Sie alle noch lebenden Gesprächspartner von damals getroffen?
Loushy: Erst nach der Auswahl des historischen Materials haben wir beschlossen, wen wir von ihnen filmen wollen. Denn es war mir wichtig, dass sie vor der Kamera ihren eigenen Aussagen von 1967 zuhören.
Manche israelische Medien kritisieren schon jetzt Ihren Film, da er angeblich "dem Ansehen Israels" schadet. Was entgegnen Sie solchen Kritikern?
Loushy: Solange wir in einer Demokratie leben, müssen wir uns mit unserer Geschichte auseinandersetzen. Wir müssen öffentlich über unsere Moral diskutieren, auch über schmerzliche und offene Wunden. Der Film zeigt die Geschichte der größten Zionisten, die dieses Land aufbauten und man muss ihre Aussagen respektieren. Daher dient mein Film Israel, das sich in einer gefährlichen Situation befindet, er dient einer besseren Zukunft für dieses Land.
Ihr Film heißt "Censored Voices". Welcher Anteil der Aufnahmen wurde 1967 zensiert und welcher jetzt?
Loushy: Rund 70 Prozent der Aussagen wurden damals zensiert, nur der Rest ist im Buch enthalten. Die meisten Aussagen im Film bestehen aus diesen zensierten Gesprächen. Leider musste ich, wie alle Filmemacher in Israel, den Film der Zensurbehörde vorlegen. Zum Glück hat diese nur minimal zensiert. Vielleicht ist die israelische Zensur seit 1967 viel liberaler geworden.
Interview: Igal Avidan
© Qantara.de 2015