Mit dem Akkordeon gegen Mauern

Youssra El Hawary wurde mit ihrem Song "El Soor" Anfang 2012 schlagartig berühmt. Auf humorvolle Weise setzt sich die junge Ägypterin in ihren Liedern mit den gesellschaftlichen und politischen Zuständen am Nil kritisch auseinander. Mit ihr sprach Marian Brehmer.

Von Marian Brehmer

Sie sind kürzlich auf dem deutschen Elektrofestival "Fusion" aufgetreten. Wie war die Resonanz?

Youssra El Hawary: Ich hatte ein paar Auftritte in Europa und kann nur sagen, dass wir Glück haben, in dieser Zeit des Internets zu leben. Wir sind nicht mehr auf Politiker angewiesen, die uns ihre Version der Welt zeigen. Ich kann ein Video aufnehmen, es hochladen und jeder in der Welt kann es anschauen.

Was meine Musik angeht, so bin ich immer ein bisschen angespannt, wenn das Publikum meine arabischen Texte nicht versteht. Aber schließlich kommen ja alle Leute in erster Linie wegen der Musik zu Konzerten – ob in Kairo oder in Berlin.

Lassen sich in Kairo und anderen großen Metropolen Ägyptens gegenwärtig neue musikalische Trends beobachten?

El Hawary: Etwas Neues in Kairo sind die "Mahrajen". "Mahrajen" bedeutet "Festival" und ist eine Art spontane Party. Die Leute verwenden alte Computer, um elektronische Klänge zu erzeugen und mischen diese mit ihren Stimmen. Ein "Mahrajen" findet vor allem in verlassenen Gebäuden, manchmal in einem Kleinbus statt.

Musik war schon immer spontan in Ägypten, was sehr mit unserer Kultur zusammenhängt – schauen Sie sich etwa die Hochzeiten an. Abgesehen von der Musik, die während der Revolution aufgekommen ist, ist diese spontane Musik wichtig für uns.  

Wie haben Sie die Revolution in Ägypten erlebt?

El Hawary: Sie hat mich völlig überrascht. Als man die ersten Protestaufrufe über Facebook herumgeschickt hat, haben wir uns noch darüber lustig gemacht. Ein paar Tage später waren plötzlich alle auf den Straßen. Wir waren sehr aufgeregt und dachten "Mein Gott, passiert das wirklich hier?!". Es war magisch. Ich glaube, wir haben in uns Gefühle entdeckt, von denen wir nicht wussten, dass es sie gab, etwa wie sehr du dein Land liebst. Es ist diese verborgene Kraft im Inneren, ein starker Glaube an dich selbst, der durch die Ereignisse ausgelöst wurde.

Ihre Songs handeln oft von den kleinen Ärgernissen des Alltags in Ägypten, wie die Staus im Kairoer Verkehr. Was stellt derzeit das größte Problem für viele Ägypter dar?

El Hawary: Wir werden immer noch durch zu viele Traditionen kontrolliert. Es gibt Regeln und wir wissen nicht wirklich, warum sie existieren. Nehmen Sie beispielsweise die Familien und was sie übereinander erzählen. Seit der Revolution hat sich zweifellos etwas verändert. Die Menschen haben begonnen, ernsthaft über den Begriff "Freiheit" nachzudenken. Jeder fragt sich jetzt, was es wirklich bedeutet, wenn die Leute sagen, dass "die Straße dir gehört".

Die 1983 geborene Musikerin Youssra El Hawary zählt zu einer neuen Generation ägyptischer Musikerinnen, die über das singen, was sie bewegt. In Zukunft möchte sie diese jungen Künstlerinnen in einem Workshop zusammenbringen und ihnen landesweit Gehör verschafffen.

Haben Sie schon immer in Kairo gelebt?

El Hawary: Eigentlich wurde ich in Kuwait geboren. Wie viele Ägypter sind meine Eltern in die Golfstaaten immigriert, um dort zu arbeiten. Aber jetzt fühle ich mich in Kairo zuhause. Ich reise viel und habe gemerkt, dass ich nirgendwo anders leben kann. Eigentlich ist das Leben in Kairo wirklich schlimm. Die Stadt schläft niemals und saugt Energie aus dir. Aber gleichzeitig ist sie so dynamisch. Sie ist wirklich zu einem kulturellen Zentrum geworden und täglich eröffnen neue Veranstaltungsorte.

Warum haben Sie sich für das Akkordeon als Musikinstrument entschieden?

El Hawary: Ich nehme an einem Chorprojekt namens "Complaint Choir" teil. Dort suchten sie ein neues Instrument. Mir fiel ein, dass noch ein Akkordeon zuhause lag, das ich in meiner Schulzeit gespielt hatte. Also versuchte ich es wieder zu spielen und brachte es mir neu bei. Ich mag dieses Instrument, da es für westliche und orientalische Klänge genutzt werden kann. Das Akkordeon taucht oft in unseren arabischen Volksliedern auf.

Ihr Debüt-Song "El Soor" wurde schnell erfolgreich, als Sie es auf Youtube hochgeladen haben. Weche Idee steckt hinter "El Soor"?

El Hawary: Es war alles spontan. Ich bin auf das Gedicht "El Soor" (Die Mauer) des ägyptischen Karikaturisten Walid Taher gestoßen und mochte es. Das Gedicht ist eine Art Satire über die Mauern, die Menschen bauen, um voneinander getrennt zu leben: "Vor der Mauer/Vor jenen, die sie bauten/Vor jenen, die sie hochzogen/Stand ein armer Mann/Der pinkelte/Auf die Mauer, und auf jene, die sie bauten und sie hoch zogen."

Das Gedicht bezieht sich nicht auf eine bestimmte Mauer, sondern mehr auf die Idee, Menschen einzuschließen. Als ich ein Lied daraus machte und es mit den Mauern am Tahrir-Platz in Verbindung brachte, bekam es eine andere Bedeutung.

Wie sind diese Mauern entstanden?

El Hawary: Zu jener Zeit hatte das Militär in den Straßen, die auf den Tahrir-Platz führen, Mauern errichtet. Der Verkehr wurde immer katastrophaler in dieser Gegend. Sobald etwas in den Straßen passierte, bauten sie eine neue Mauer. Innerhalb von einer Nacht komponierte ich mein Lied. Ich rief eine Freundin an, die Fotografin ist, um das Video vor einer dieser Mauern zu drehen – es war ihr erstes Shooting. Wir nahmen das Video in den frühen Morgenstunden auf. Alle Menschen, die in dem Clip auftauchen, sind zufällig aufgenommen worden, es sind Passanten. Das macht den Clip mitunter auch so besonders.

Aber wie erklären Sie sich den plötzlichen Erfolg des Liedes?

El Hawary: Weil es mit der Revolution zu tun hat. Es handelt von etwas, mit dem sich jeder identifizieren kann. Jeder ist von den Mauern genervt. Und obwohl das Lied ein ernstes Thema zum Inhalt hat, sind Sprache und Melodie von ironischer Natur. Allerdings haben mich einige kritisiert, dass ich das Wort "pinkeln" in meinem Song verwendet habe. Ich bin ein Mädchen und dieses Wort wurde noch nie zuvor in einem Lied verwendet. Solche Reaktionen habe ich wirklich nicht erwartet.

Verstehen Sie sich als Stimme des Protests?

El Hawary: Nachdem ich "El Soor" gesungen habe, haben mich viele als revolutionären Künstler etikettiert. Aber für mich gibt es so was wie ein "revolutionäres Lied" nicht wirklich. Ein "revolutionäres Lied" ist nicht ein Lied, das von der Revolution handelt. Wirklich revolutionär zu sein, heißt eine klare Botschaft beim Singen zu haben und diese mit lauten Worten zu singen. Das Thema des Songs kann alles sein.

Ich plane nie im Voraus, worüber genau ich singen werde. Ich sehe mich nicht in der Lage, den Menschen irgendwelche Botschaften zu übermitteln. Ich singe einfach über das, was ich in diesem Moment fühle. Was mich bewegt, kommt aus meinem Mund. Und genau das ist auch passiert, als ich "El Soor" gesungen habe.

Ich hatte nie den Traum, eines Tages Sängerin zu werden. Alles geschah rein zufällig. Ich schätze, dass dies auch den offenen Charakter meiner Musik geprägt hat. Angebote von Studios, die meine Musik veröffentlichen wollen, habe ich bisher nicht angenommen.

Etwas jedoch, was mich an der Veränderung in Ägypten fasziniert, ist, dass viele Mädchen nun ihre eigenen Musikprojekte realisieren. Vor der Revolution produzierten Sängerinnen Lieder aus Texten unserer Schriftsteller. Aber jetzt drücken junge Frauen aus, was sie wirklich denken. Ich würde gerne einen Workshop mit diesen Sängerinnen unserer Generation veranstalten. Ich will ihre Stimmen sammeln und ihnen in ganz Ägypten Gehör verschaffen.

Interview: Marian Brehmer

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de