''Wir leben in einer modernen Welt nach altertümlichen Regeln''
Auf welche Heiligkeit bezieht sich Ihr Filmtitel "Sanctity" ("Mit Allahs Hilfe")?
Ahd Kamel: Auf die Heiligkeit des Lebens, die wir vergessen haben, weil wir uns in Saudi-Arabien ständig mit der Heiligkeit, der Ehre und Unantastbarkeit der Frau beschäftigen. Es handelt von all den Schlupflöchern und dem Betrug, weil die Frauen doch im Grunde genommen von den Männern ausgenutzt werden. Denn die Verhaltensregeln, zu denen die Obrigkeit die Menschen verpflichtet, sind allumfassend und realitätsfern. Der Film handelt vor allem von den weiblichen Stärken.
Der Filmtitel ist ironisch gemeint, weil "Sanctity" zeigt, dass eine Frau stets eine heilige Person sein soll. Das ist der Grund, weshalb Männer sie verhüllen und sie im Hause behalten, um sie zu beschützen. Doch das funktioniert so nicht mehr.
Inwieweit spiegelt Ihr Film die Probleme einer allein stehenden Frau im heutigen Saudi-Arabien wider?
Kamel: Das Hauptproblem ist, dass jede Frau einen männlichen Vormund haben muss, der über ihr Leben bestimmt und alles entscheidet. Frauen gehören in Saudi-Arabien den Männern, was sehr frustrierend ist.
Sie kehrten nach vielen Jahren in den USA wieder in Ihr Land zurück. Was waren die größten Hindernisse, mit denen Sie als alleinstehende Frau konfrontiert wurden?
Kamel: Das Vormundschaftssystem, das vorsieht, das jede Frau einen männlichen Vormund benötigt, sei es der Vater, der Ehemann oder der Bruder. Sie erteilen die Erlaubnis, ob die Frau reisen oder auch nur einkaufen gehen darf. Nicht einmal das Auto dürfen sie selbst fahren.
Wenn ich morgens aufwache und in einem Café etwas trinken möchte, muss ich einen Fahrer rufen, damit er mich dorthin bringt. In New York war ich unabhängig, ich konnte überall hingehen. Jetzt hingegen muss ich immer auf meinen Fahrer warten – das ist wirklich wie im 15. Jahrhundert!
Ich bin 2011 nach Hause zurückgekehrt. Ich bin eine alleinstehende, geschiedene Frau, meine Eltern sind tot, so dass meine Brüder dadurch zu meinem Vormund wurden. Ohne einen der beiden kann ich nichts erledigen. Ich habe großes Glück, dass meine Brüder mich sehr unterstützen, so hält sich meine Frustration in Grenzen, verglichen mit jenen Frauen, die aus einem weniger privilegierten Umfeld stammen und keine finanziellen Mittel besitzen. Im Film ist Abdullah keine gute Person und nutzt seine Machtstellung aus, um Areej unter Druck zu setzen, die keine Möglichkeit hat, dagegen zu protestieren.
Hatten Sie als geschiedene Frau die gleichen schwierigen Hürden zu nehmen wie Ihre Hauptfigur?
Kamel: Mein Mann war US-Amerikaner und meine Scheidung fand in den USA statt, so dass das eine völlig andere Situation darstellte. Aber einige meiner saudischen Freundinnen, die eine Scheidung wollten, wurden über viele Jahre von ihren Ehemännern zurückgehalten und mussten zahlen, um ihre Freiheit zurückzuerlangen.
Wie ist dieser Film entstanden?
Kamel: Ich habe Saudi-Arabien verlassen als ich 17 Jahre alt war und studierte Filmregie sowie Schauspiel in New York. Der Produzent Jerome fragte mich Anfang 2011, ob ich das Drehbuch zu dem Film schreiben würde. Ich wollte etwas über die Situation der saudischen Frauen schreiben, die ich auch aus meinen eigenen Erfahrungen kannte.
Haben Sie den Film in Saudi-Arabien gedreht?
Kamel: Ja. Ich bin für die Dreharbeiten nach Hause zurückgekehrt und habe die Chance erkannt, die sich dort für mich bot. Denn dort war ich einzigartig, während ich in New York von einem Vorsprechen zum nächsten gehen und den Amerikanern eine völlig andere Kultur erklären musste.
Die Heimkehr gestaltete sich dennoch sehr schwierig, es war ein echter Kulturschock, aber auch sehr interessant. Ich fühlte mich wieder lebendig, weil sich in der Region doch vieles bewegt. Saudi-Arabien ist nicht mehr so isoliert, wie es früher der Fall war. Es gibt dort mittlerweile eine Bewegung von Künstlern und es ist schön, ein Teil davon zu sein.
Meine größte Herausforderung war es, den ganzen Film in nur sieben Tagen zu drehen, dabei die Hauptrolle zu spielen, die Regie zu führen und mit zahlreichen Menschen zusammenzuarbeiten, die bisher nur auf TV-Sets, aber noch nie auf einem Film-Set aktiv waren.
Hatten Sie Schwierigkeiten mit der Zensur?
Kamel: Nein, ich habe den Film gedreht, den ich drehen wollte. Sobald man hinausgeht und ein bestimmtes Ziel verfolgt, stellt man fest, dass die Menschen nicht dagegen sperren, so wie man es zunächst noch angenommen hatte. Tatsächlich haben wir noch nicht einmal einen Filmausschuss, so dass wir beim Ministerium für Kultur eine Dreherlaubnis beantragen mussten. Ich glaube, sie haben nicht einmal verstanden, was wir da taten – und hatten daher Glück. Sie wollten das Drehbuch, wir gaben es ihnen und bekamen es ohne irgendwelche Änderungen zurück.
Welche Tabus brechen Ihre Protagonisten auf der Leinwand?
Kamel: Einen Fremden im Hause zu haben, selbst wenn es sich um einen Teenager handelt, ist ein komplettes Tabu; Drogenhandel ist ein weiteres; eine Frau, die ihr Haus während der Trauerzeit verlässt, deren Länge davon abhängt, wie traditionell die Familie ist und bis zu vier Monaten und zehn Tagen dauern kann. Die Hauptfigur des Films verlässt ihr Zuhause, weil sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten muss.
Der ganze Film ist ein Tabu. Aber ich versuche zu zeigen, dass Areejs Entscheidungen auch die beste Lösung für sie selbst waren. Ich habe den Film gedreht, um diese Gesellschaft zu hinterfragen, die ein perfektes muslimischen Leben aufrechtzuerhalten versucht, sich aber nicht an dessen Regeln hält. Beispielsweise sind Männer nicht mehr die Versorger. Wir leben in einer modernen Welt nach altertümlichen Regeln. Der Film ist kein Angriff auf die saudische Gesellschaft, er wirft nur große Fragen auf.
Der Teenager in Ihrem Film, Ali, ist ein illegaler Einwanderer aus dem Jemen. Ist die illegale Einwanderung ein Problem in Saudi-Arabien?
Kamel: Sie ist ein gewaltiges Problem. Wir haben eine Menge illegaler Einwanderer, die für die Pilgerfahrt nach Mekka kommen und schließlich im Land bleiben. Aber ich spreche von anderen Einwanderern, die hier bereits seit sehr langer Zeit illegal leben. Sie können keine Kinder bekommen, können nicht einmal ins Krankenhaus eingeliefert werden, weil sie sonst abgeschoben werden. Wir nennen diese illegalen Einwanderer "majhul", Menschen ohne Identität.
Wird Ihr Film auch in Saudi-Arabien gezeigt werden?
Kamel: Privat ja, jedoch nicht öffentlich, weil wir keine Kinos oder Theater besitzen (lacht). Bis in die späten 1970er Jahre gab es eine Musikszene und eine große, florierende Theaterszene. Das religiöse Erwachen hier war die Folge der Besetzung der Moschee in Mekka nach der islamischen Revolution im Iran von 1979.
Ein paar bewaffnete Rebellen behaupteten, dass die königliche Familie das islamische Gesetz nicht streng genug umsetze und übernahmen die große Moschee für zwei Wochen. Um sie zu beschwichtigen, verhängten die saudischen Behörden strengere islamische Regeln. Sie schlossen die Kinos und zwangen Frauen, ihre Gesichter zu verhüllen.
Interview: Igal Avidan
© Qantara.de 2013
"Mit Allahs Hilfe" ("Sanctity"), Frankreich, Saudi-Arabien, 2012, 37 min., Regie: Ahd Kamel Drehbuch: Ahd Kamel
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de