"Europas Schmerzgrenze deutlich machen"
UN-Generalsekretär Kofi Annan hat den Menschenrechtsrat zu Beginn seiner dritten Sitzungsperiode Anfang Dezember aufgefordert, sich nicht nur mit dem Nahost-Konflikt, sondern auch mit anderen Fällen zu befassen. Ist diese Mahnung berechtigt?
Günter Nooke: Sehr sogar. Es darf in der Tat nicht sein, dass der Rat sich nur mit der Menschenrechtssituation im Nahen Osten beschäftigt und andere schwere – oder sogar, wie Kofi Annan sagte, noch schwerere – Menschenrechtsverletzungen ausblendet, nur weil die Mehrheit der Mitglieder zum Beispiel das Thema Darfur nicht auf der Tagesordnung haben will.
Wie erklären Sie diese Abneigung vieler Entwicklungsländer? Ist das der alte Nord-Süd-Konflikt, den es schon in der Menschenrechtskommission gab?
Nooke: Im Menschenrechtsrat sind letztlich dieselben Staaten und teilweise sogar dieselben Personen vertreten wie in der alten Kommission. Es war immer illusorisch zu glauben, dass sich allein durch den neuen Titel und die formale Aufwertung des Gremiums auch das Bewusstsein der Mitglieder ändern würde.
Wir haben heute die Situation – und das ist sogar eine Verschlechterung gegenüber der Kommission –, dass eher menschenrechtsunfreundliche Staaten im Rat eine Mehrheit haben – mit der Folge, dass wesentliche Entscheidungen, die im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sind, hart erkämpft werden müssen.
Genau davor hat die US-Regierung vor einem Jahr gewarnt, als es um die Entscheidung für oder gegen den Rat ging. Haben die Amerikaner rückblickend Recht behalten?
Nooke: Die Europäer haben die Skepsis der USA ja durchaus geteilt. Europa war aber zusammen mit anderen Ländern der Meinung, bevor es überhaupt keinen Rat gibt, müsse das Beste aus dem gefundenen Kompromiss gemacht werden. Die USA haben am Ende ja nur noch dafür gekämpft, dass Staaten nur mit Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung in den Rat gewählt werden können. Aber auch das hätte die Mitgliedschaft zum Beispiel von Kuba nicht verhindert.
Das zeigt, dass der Rat heute vermutlich nicht viel anders aussähe, hätten die Amerikaner sich durchgesetzt. Es geht darum, dass jedes einzelne Mitglied die grundlegenden Prinzipien anerkennt, auf denen die Vereinten Nationen ruhen. Wenn eine Mehrheit im Rat sagt, wir wollen über Menschenrechtsverletzungen in bestimmten Staaten nicht sprechen, dann ist nicht nur der Menschenrechtsrat gescheitert, sondern dann stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage Reformen in den Vereinten Nationen überhaupt möglich sind.
Die Entwicklungsländer rechtfertigen ihre Haltung häufig mit der Ablehnung von westlicher Dominanz und von Doppelstandards, die der Westen in Menschenrechtsfragen anwende. Ist das nur Taktik oder muss man das ernst nehmen als echte Sorge vieler armer Länder?
Nooke: Ich persönlich wäre geneigt, stärker auf diese Argumente zu hören, wenn nicht so oft der Eindruck erweckt würde, dass es schlichtweg um Machtfragen und um Geld geht. Genau das macht die Situation im Rat so schwierig. Einerseits müssen wir Europäer und auch die Nordamerikaner anerkennen, dass wir im Vergleich zu den Entwicklungsländern ein Mehrfaches an Ressourcen verbrauchen. Da stehen wir in der Schuld.
Andererseits lassen sich Menschenrechtsverletzungen nicht mit Armut rechtfertigen – ebenso wenig wie es in der Terrorismusbekämpfung einen Rabatt auf die Menschenrechte gibt. Es gibt Prinzipien der Vereinten Nationen und es gibt allgemeine Menschenrechte, an die sich alle halten müssen. Natürlich geht es auch um Politik und nicht nur um hehre Ideale. Dabei dürfen wir Europäer uns nicht blenden und über den Tisch ziehen lassen.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat die Europäer aufgefordert, im Menschenrechtsrat geschlossener aufzutreten. Hat es daran bislang gemangelt?
Nooke: Wir haben als Europäer immer Wert darauf gelegt, gemeinsam zu agieren. Ich halte das schon deshalb für wichtig, weil wir die einzige Gemeinschaft sind, die über mehrere Regionalgruppen hinweg der anderen starken Fraktion, der "Organisation der Islamischen Konferenz" (OIC), Paroli bieten kann. Das Problem ist, dass für die 25 europäischen Mitglieder nur ein Land spricht, nämlich die jeweilige Präsidentschaft, während für die OIC zehn oder 15 Staaten auftreten.
Dadurch wirkt die politische Gewichtsverteilung im Rat deutlich ungünstiger für Europa, als sie tatsächlich ist. Deshalb lautet die Herausforderung für uns, zwar mit einer Stimme zu sprechen, aber in verschiedenen Dialekten mehrmals in die gleiche Richtung zu argumentieren, um so unsere Präsenz im Rat zu verstärken.
Besteht der Hauptkonflikt heute zwischen islamischen und westlich beziehungsweise christlich orientierten Staaten und nicht mehr so sehr zwischen Entwicklungs- und Industrieländern?
Nooke: Als ich an der ersten Sitzung des Rates teilgenommen habe, war ich überrascht, dass die Regionalgruppen offenbar eine geringere Rolle spielen als die OIC-Gruppe. Ich glaube aber nicht, dass jetzt ein Konflikt der Religionen an die Stelle des alten Nord-Süd-Konflikts tritt. Ich denke, es geht weiterhin um politischen Einfluss.
Natürlich haben wir viel über die Politik Israels, über den Karikaturenstreit oder über die Papst-Äußerungen zum Islam debattiert – in der Regel von der OIC initiiert und von der Mehrheit beschlossen. Das zeigt, dass religiöse Motive eine Rolle spielen. Ich glaube aber, dass Religion ebenso wie Armut häufig für politische Zwecke instrumentalisiert wird.
Der Vertreter Sudans in der Generalversammlung hat gesagt, es sei lächerlich, dass die USA sich als Kritiker aufspielen; jeder wisse von Guantánamo Bay, den amerikanischen Geheimgefängnissen und der Überwachung der eigenen Bürger. Was antworten Sie darauf?
Nooke: Das Argument ist nur richtig, insoweit es um die Glaubwürdigkeit des Westens geht. Man darf aber die Quantität von Menschenrechtsverletzungen nicht aus den Augen verlieren. Wenn in Afrika Tausende ermordet oder in China Hunderte Häftlinge auf Grund fragwürdiger Verfahren und Verhöre hingerichtet werden, dann steht das in keinem Verhältnis zur Frage der Haftbedingungen in Guantánamo Bay.
Es gibt oft eine schiefe Wahrnehmung von Menschenrechtsverletzungen, und ein Grund dafür ist, dass der Westen hier in einem strategischen Nachteil ist: Wir haben kritische Menschenrechtsorganisationen und eine kritische Öffentlichkeit, während in Diktaturen Informationen unterbunden werden und kritische Journalisten um ihr Leben fürchten müssen. Tatsächlich ist unser "Nachteil" ein großer Wert, auf den wir stolz sein können. Denn die Einschränkung von Meinungs- und Medienfreiheit ist bereits Teil der Menschenrechtsverletzungen.
Die bisherigen Entscheidungen und Resolutionen des Rates lassen eine starke Gewichtung wirtschaftlicher und sozialer Rechte erkennen. Wie beurteilen Sie das?
Nooke: Ich glaube nicht, dass der Menschenrechtsrat gut damit beraten ist, sich als eine weitere UN-Entwicklungsorganisation zu positionieren. Grundlage unserer Arbeit sind die Allgemeine Menschenrechtserklärung und beispielsweise die beiden UN-Pakte über politische und bürgerliche sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
Aber es geht nicht, dass sich Regierungen, die es mit dem Rechtsstaat nicht so genau nehmen, hinter der Forderung nach kollektiven und sozialen Rechten verstecken. Meiner Ansicht nach würde eine zu starke Betonung der WSK-Rechte (die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte; Anmerkung der Redaktion) den Grundgedanken der Menschenrechte – Schutz vor staatlicher Willkür – langfristig schwächen.
Was muss geschehen, um den Rat effektiver zu machen? Ist das überhaupt möglich mit den gegebenen Strukturen?
Nooke: Wir versuchen immer noch, möglichst viele von den alten Mandaten der Kommission zu erhalten und durch neue zu ergänzen, um ein geeignetes Instrumentarium für den Menschenrechtsschutz zu schaffen. Wir haben zum Beispiel großes Interesse daran, dass die neuen Länderberichte – "Universal Periodic Reviews" – eingeführt werden, dass also alle Staaten der Welt gleichbehandelt und regelmäßig überprüft werden.
Wenn jeder einzelne Länderbericht vom Willen der Ratsmehrheit abhängig gemacht wird, dann werden die Berichte kein wirksames Instrument sein. Die westlichen Länder wären schlecht beraten, in den harten Auseinandersetzungen über geeignete Monitoring-Verfahren nachzugeben. Wir sind nicht verpflichtet, Entscheidungen zu treffen, die den Menschenrechten schaden und ihren Gegnern nützen.
Wenn es zu keiner Einigung auf effektive Kontrollverfahren kommt, ist das Unternehmen Menschenrechtsrat dann gescheitert?
Nooke: Es ist zu früh, schon jetzt darüber zu spekulieren. Wir Europäer müssen einerseits versuchen, zu jenen afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten, die eine konstruktive Rolle spielen, Brücken zu bauen. Andererseits müssen wir unmissverständlich klarmachen, was mit uns geht und was nicht geht. Ich glaube, wir haben noch nicht deutlich genug gemacht, wo unsere Schmerzgrenze liegt.
Interview: Tillmann Elliesen
© Zeitschrift Entwicklung und Zusammenarbeit 2007
Günter Nooke ist Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt und vertritt Deutschland im UN-Menschenrechtsrat.
Qantara.de
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Dialog zwischen Heba Raouf Ezzat - Emran Qureshi
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